Als die ländliche Welt auseinanderfiel

FOTOGRAFIE Die Ausstellung „Brasiliens Moderne 1940–1964“ widmet sich der Erfindung der städtischen Kultur – die Schau zeigt Industriearchitektur genauso wie Alltagsleben und eine wachsende Hauptstadt Brasília

In José Medeiros’ Fotografien aus der Nachkriegszeit scharen sich Männer um eine Kandidatin zur Miss-Wahl, Karneval und Fußball werden ins Bild gesetzt

VON LENNART LABERENZ

Brasilien in aller Munde: in diesem Jahr als Gastland der Frankfurter Buchmesse, im Hinblick auf die Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr – und auch auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen ist das Land omnipräsent. In der Schau „Brasiliens Moderne 1940–1964“ widmet sich nun auch das Museum für Fotografie dem Land und dessen Entwicklung. Schwarz-weiße Bilderstrecken erkunden die alte Kapitale Rio de Janeiro, werfen einen Blick auf die Wirtschaftsmetropole São Paulo, verfolgen den Aufbau der neuen Hauptstadt Brasília, der Ausweitung Brasiliens ins Inland.

Ende der 1920er hörte man längst von den Versprechen und dem Anspruch der Moderne: Literatur und bildende Kunst, Architektur und Städteplanung, auch die Lebensentwürfe der Städter standen im Gegensatz zur Willkür der Eliten des 19. Jahrhunderts. Die Modernisierung galoppierte – das Land hatte sich von der Kolonie zur jungen Nation entwickelt, jetzt machte es auch den Schritt vom Land in die Städte.

In seinem Essay von 1936 über „Die Wurzeln Brasiliens“ – gerade vom Suhrkamp Verlag neu aufgelegt – beschrieb der junge Historiker Sérgio Buarque diese doppelte Machtverschiebung der „brasilianischen Revolution“ als Weg zu einer eigenen Moderne: „Von dem Tag, an dem die ländliche Welt feststellen musste, dass sie auseinandergefallen war und schnell ein Opfer des unbarmherzigen Siegeszuges der Welt der Städte wurde, begann in beiden Bereichen der besondere Einfluss von Übersee, der Einfluss der Portugiesen zu schwinden.“

Der Titel der Ausstellung scheint nun ein wenig überdimensioniert: Die Kuratoren zeigen, rund fünfzig Jahre nachdem Brasilien die Republik ausrief, sich von Portugal unabhängig und obendrein das Ende der Sklaverei erklärte, das Land aus der Perspektive von vier Fotografen – drei von ihnen aber sind nicht in Brasilien geboren.

Die größte erzählerische Spanne umreißt der in Paris geborene Marcel Gautherot, der in den 1930ern nach Rio kam und blieb: Er nimmt sich noch einmal den Blick des 19. Jahrhunderts vor, in den fortschrittlichere Interpreten einer brasilianischen Identität vor allem die Natur und die indigene Bevölkerung gerückt hatten. So zumindest könnte man Gautherots Fotografien von gewaltigen Bäumen und Lichtspiegelungen des Überschwemmungsurwalds, sowie den Studien über Riten und Feste der indigenen Bevölkerung deuten. Gautherot besucht Fischer im Norden, die wie in vorvergangenen Zeiten arbeiten und in Pfahlbauten leben, aber er beobachtet auch Rios mondänes Straßen- und Strandleben. Schließlich verfolgt er den Bau Brasílias als gewaltige Anstrengung, als visionäres Vorhaben, als stilistischen Wurf aus Beton und Licht, aber immer auch mit einem Blick auf Arbeiter, die in Sacolândia leben – in Hüttensiedlungen, oft nur unter einer Haut aus Säcken. So zieht sich Gautherots Bilderstrecke vom 19. Jahrhundert in die widersprüchliche Moderne, begleitet den Niedergang Rios, den Aufstieg der Wirtschaftsmetropole São Paulo und das neue politische Zentrum Brasília.

José Medeiros, der zur selben Zeit wie Gautherot nach Rio kam, arbeitete als Fotoreporter für O Cruzeiro, eine der innovativsten Zeitschriften der Zeit, bevor er sich dem Kino zuwandte. Seine Bilder sind oft von eindeutigerem Erzählinteresse geprägt: Indianer in der Serra do Roncador helfen, so die Bemerkung im O Cruzeiro, dem Fortschritt – sie rangieren das Flugzeug, mit der Medeiros und eine Expeditionsgruppe unterwegs waren, auf der Waldpiste. Medeiros dokumentiert die Nachkriegszeit: Männer scharen sich um eine Kandidatin zur Miss-Wahl, Karneval und Fußball werden ins Bild gesetzt.

Thomaz Farkas fotografiert ganz ähnliche Motive, allerdings blicken wir durch die oft unterschiedliche Wahl von Winkel und Ausschnitt auch auf den Fotografierenden zurück: Wir bekommen eine Ahnung von der Politik des Blicks. Farkas, als Kind einer ungarischen Familie 1930 nach Brasilien eingewandert, beobachtet das Leben in Rio und São Paulo immer auch als grafische Formation, Schattenriss und Abstraktion. Seine Bilder sind eleganter, wo Gautherot nüchterner und Medeiros journalistischer arbeiten.

Mit Hans Gunter Flieg schließlich schlagen die Kuratoren den Bogen zur Industrie- und Werbefotografie, die sich weniger der brasilianischen Eigenheit als vielmehr einem Lückenschluss zuwendet: In der Darstellung von Maschinen, Industrie und Produkten blicken wir auf den Versuch, sich an die Industrienationen zu assimilieren. Die Fabrik, die Ikone der Moderne, steht anstelle von Betrachtungen über die Kultur. In ihren aufgeräumten Oberflächen manifestiert sich der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit – und rückt diese zugleich aus dem Blick.

■ „Brasiliens Moderne 1940–1964“, Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, Charlottenburg. Bis 5. 1. 2014