„Es gibt keinen Schutz“

Gewalt in zivilen Räumen. Der Amoklauf ist immer ein Mittelschichtsphänomen gewesen, sagt Amok-Experte Joseph Vogl

INTERVIEW SASCHA TEGTMEIER

taz: Herr Vogl, ist der Sechzehnjährige, der in Berlin 31 Menschen verletzt hat, ein typischer Amokläufer?

Joseph Vogl: Der Begriff „Amoklauf“ wird immer sehr schnell und reflexhaft verwendet. Er erklärt eigentlich nichts, sondern zeigt, wie unserer Gesellschaft solche gefährlichen Akte wahrnimmt, die scheinbar aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Wäre die Tat in Berlin eine Wirtshausschlägerei gewesen und der Junge hätte dort 28 Leute verletzt, wäre das nicht Amoklauf genannt worden. Dazu muss es ein Ort sein, an dem es keinen persönlichen Bezug zwischen Opfer und Täter gibt. Eine Tat, die sich durch Beziehungslosigkeit auszeichnet, wird gerade deshalb als besonders gefährlich wahrgenommen.

Was noch zeichnet einen Amoklauf aus?

Der Begriff ist extrem schwammig – er hat weder eine juristische, forensische oder psychiatrische Definition. Er wird überall dort verwendet, wo man bestimmte Taten und Verbrechen nicht zuordnen kann. Er bezieht sich erstens auf einen Täter, von dem man wenig oder nichts weiß – einen Täter, der vielleicht sogar besonders unauffällig ist. Zweitens bezieht sich der Begriff auf Fälle, bei denen man die Motive nicht kennt. Die Tat erscheint grundlos. Die Benennung „Amoklauf“ verweist deshalb weniger auf eine psychiatrisch definierte Motivation, sondern auf eine Wahrnehmungsgeschichte sozialer Bedrohungen. Seit etwa 100 Jahren werden diese Attacken Amokläufe genannt.

Welcher Begriff würde die Berliner Tat besser erklären?

Was auf den ersten Blick nach Amoklauf aussieht, wird von der Psychiatrie in ganz unterschiedliche Muster eingeordnet.

Müssen wir nun Angst haben, zu Großveranstaltungen wie der Fußballweltmeisterschaft zu gehen?

Es gibt keinen Schutz vor Amokläufern. Und im Rahmen von Gewaltakten, die öffentliches Aufsehen erregen, ist der Amoklauf irrsinnig prominent. Auf der anderen Seite jedoch ist er in der Kriminalstatistik verschwindend gering. Die Tat ist im allerhöchsten Maße unwahrscheinlich, erscheint aber im Nachhinein sehr plausibel. Der arme Junge, der das nun getan hat, hat überhaupt nichts mit der Bahnhofseröffnung oder anderen Großveranstaltungen zu tun. Aber das Ereignis wird auf eine fast unheimliche Art und Weise damit in Verbindung gebracht.

Warum ziehen Amokläufe so viel Aufmerksamkeit auf sich?

Erstens, weil durch mangelnde Erklärungen das Gefühl der Gefährdung besonders stark wird. Zweitens, weil sie stets mehr oder weniger mit einem kriegerischen Szenario verbunden sind. Amokläufe werden dort als solche wahrgenommen, wo mitten im zivilen und öffentlichen Leben so etwas wie eine ganz elementare kriegerische Attacke stattfindet. Er erscheint so eher als ein kriegerischer, als ein krimineller Akt.

Inwiefern eine kriegerische Attacke?

Auch in Erfurt wurde vor vier Jahren von Amoklauf gesprochen. Nicht zuletzt deshalb, weil man es hier mit einer Art Kommandoaktion zu tun hatte. Daran zeigt sich der Herkunft des Amokbegriffs. Er ist zuerst in malaiischen, südindischen und indonesischen Kriegerkasten aufgetaucht und meinte zunächst nichts anderes als einen entfesselten Krieg, einen ritualisierten Blutrausch.

Was für eine Gesellschaft bietet den Nährboden für solche Attacken in heutiger Form?

In den USA kann man beispielsweise bei Modellfällen feststellen, wie Amokläufe mit militärischen Mobilisierungen zusammenhängen. Typische Fälle hat man nach dem Koreakrieg oder dem Vietnamkrieg festgestellt. Sie verwiesen damit auch auf den internen Stand von Militarisierung von Gesellschaften.

Der Tatort Berliner Hauptbahnhof ist jedoch ein überaus unmilitärischer Ort.

Was man Amok nennt, passiert meist in besonders zivilen Räumen: in Parlamenten, Supermärkten, Universitäten, Schulen, Gerichtssälen.

Eine Frage drängt sich auf: Warum tut jemand so etwas?

Ich kann mich da nicht einfühlen. Ich kann lediglich beobachten, wie die Taten wahrgenommen werden: Was lässt sich hier erkennen? Eine plötzliche, unbestimmte Feindschaftserklärung – einer, der sich plötzlich zum Feind aller macht.

Aber woher kommt diese Kriegserklärung?

Ich weiß es nicht. Was soll man über diesen betrunkenen Jugendlichen sagen? Irgendwo muss da eine fatale Unerträglichkeit angewachsen sein. Der Amoklauf hängt aber nicht mit einer Verwahrlosung zusammen, sondern ist immer ein Mittelschichtsphänomen gewesen ist. Die Fälle, die in die Kriminalgeschichte eingingen, waren immer Fälle, die aus der Mitte der Gesellschaft kamen. In den USA hat sich gezeigt: Es war oftmals der „good Amercian guy“.