Eine Viertelstunde Amok

Nach der Eröffnungsfeier des neuen Hauptbahnhofs sticht ein betrunkener Schüler aus Neukölln wahllos 31 Menschen nieder. Alle Verletzten sind außer Lebensgefahr. Ein Opfer ist mit dem HIV-Virus infiziert, doch die Ansteckungsgefahr für die restlichen Verletzten ist gering

BERLIN taz/dpa/rtr ■ Etwa 15 Minuten dauerte der Amoklauf im Berliner Regierungsviertel am späten Freitagabend. Um kurz nach 23 Uhr begann der 16-jährige mutmaßliche Täter, mit einem Messer auf mehrere Dutzend Menschen einzustechen. Zu der Zeit machten sich etwa 500.000 Menschen nach der Eröffnungsfeier des neuen Berliner Hauptbahnhofs auf den Heimweg. Mindestens 31 Menschen verletzte der Hauptschüler aus Neukölln mit Stichen in Rücken, Po oder Oberkörper. Danach überwältigten ihn private Sicherheitskräfte am neuen Hauptbahnhof.

Sechs Menschen wurden schwer verletzt und mussten in den umliegenden Krankenhäusern notoperiert werden. Es besteht keine Lebensgefahr mehr. Eines der ersten Opfer, das der Täter verletzte, ist nach eigenen Angaben mit dem HIV-Virus infiziert. Da der Täter danach mit demselben Messer weiterstach, besteht die Gefahr, dass sich auch andere Opfer mit dem Virus angesteckt haben könnten. Allerdings stuft Norbert Suttrop, Infektiologe an der Charité, die Infektionsgefahr als gering ein. Bei Nadelstichen betrage die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand mit dem Virus infizieren könne, lediglich 3 Promille. Über die Ansteckungsgefahr nach einem Messerstich wollte Suttrop nicht spekulieren. Allerdings schätze er er das Risiko nur geringfügig höher ein als bei Nadelstichen.

Das Restrisiko kann nach Ansicht der Experten durch rechtzeitige Medikamentengabe noch verringert werden. Den Betroffenen werde alle mögliche Hilfe und Betreuung angeboten, sagte der Ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei. Bis zum Sonntagmittag hatten sich insgesamt 56 Personen wegen des eventuellen Aidsrisikos gemeldet. 28 bekamen Medikamente. Bei den Übrigen habe sich durch Nachfragen herausgestellt, dass eine Prophylaxe nicht nötig sei, sagte gestern eine Sprecherin des Krankenhauses.

Am Samstagabend erließ der zuständige Richter auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen den 16-jährigen Täter wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung. Der Verdächtige war zur Tatzeit stark betrunken, bei den Vernehmungen durch die Polizeibeamten bestritt er die Tat und gab an, sich kaum erinnern zu können. Allerdings gibt es nach Angaben der Polizei mehr als 60 Zeugen. Außerdem hatte er die Tatwaffe bei sich gehabt, als er festgenommen wurde.

Über das Motiv des jungen Manns ist auch zwei Tage nach dem Amoklauf nichts bekannt. Der Vizepräsident der Berliner Polizei, Gerd Neudeck, sagte, der Jugendliche habe „keine kriminelle Karriere“ hinter sich, die auf eine solche Tat hätte hinweisen können. Auch die Familienverhältnisse des Schülers schätzt die Polizei als relativ geordnet ein. Allerdings ist er bereits zweimal auffällig geworden: Einmal zerstörte er eine Scheibe in seiner Schule, ein anderes Mal schlug er einen Mitschüler, weil dieser ihn angeblich beleidigt hatte.

Unterdessen kritisierte der Innenexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, das Verhalten der Berliner Sicherheitskräfte. „Mir ist ehrlich gesagt schleierhaft, warum die Berliner Behörden so lange gebraucht haben, den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen“, sagte Wiefelspütz der Saarbrücker Zeitung. Diese Frage müsse die Justiz der Hauptstadt beantworten. „Zu klären wird auch sein, warum der Gewalttäter nicht früher gestoppt werden konnte“, kritisierte der Innenexperte.

MAURITIUS MUCH

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