Eine Mutter, ein Vater, ihre Kinder

AUS FRANKFURT (ODER) BARBARA BOLLWAHN

Die Angeklagte schweigt. Am ersten Verhandlungstag macht sie die obligatorischen Angaben zur Person: Name, Vorname, Geburtsdatum. Zu den Taten aber, die ihr vorgeworfen werden, äußert sie sich mit keinem Wort. Sieht man die zierliche Frau mit den schwarzen Haaren neben ihrem korpulenten Anwalt sitzen, könnte man meinen, sie wolle sich hinter ihm verstecken.

Ganz selten nur kann man in dem sorgfältig geschminkten Gesicht der 40-jährigen Zahnarzthelferin Gefühlsregungen erkennen. Doch immer ist Stolz zu erkennen, wenn Zeugen aussagen, ihre Kinder seien „ihr Heiligtum“ und sie sei eine liebevolle Mutter gewesen. Für die im Juni 1984 geborene Stefanie, den im Juli 1985 geborenen Dan, den im November 1986 geborenen Ivo, die im September 2003 geborene Elisabeth. Dann lächelt die Angeklagte zaghaft. Die vierfache Mutter sitzt auf der Anklagebank im Saal 007 des Landgerichtes Frankfurt (Oder), weil sie neun anderen Kindern keine Mutter sein wollte.

Zwischen 1988 und 1998 soll sie sieben Jungen und zwei Mädchen zur Welt gebracht und nach der Geburt unversorgt gelassen haben. Die Leichen soll sie in Blumentöpfen, Eimern, einem Weidenkorb, einem Aquarium, einer Babybadewanne versteckt und jahrelang auf dem Balkon ihrer Wohnung in Frankfurt (Oder) aufbewahrt haben, in der sie mit ihrem Mann und den drei Kindern lebte. Sabine H. hatte bei ihrer Vernehmung angegeben, sie habe bei sieben Geburten bis zur Bewusstlosigkeit getrunken, die Neugeborenen habe sie in Handtücher oder Decken gewickelt und sich „dann weiter nicht gekümmert“. Wenn sie wieder zu sich gekommen sei, seien sie „einfach weg“ gewesen. Oft habe sie auf dem Balkon gesessen, um ihnen nahe zu sein. „Wenn ich draußen saß und rauchte, war ich froh, dass ich die toten Kinder nicht weggeworfen, sondern um mich herum hatte.“

Als ihre Wohnung wegen Mietschulden geräumt wurde – ihr Mann war mit den drei Kindern ausgezogen –, brachte sie die Gefäße auf das Grundstück ihrer Mutter in das wenige Kilometer entfernte Brieskow-Finkenheerd, ein Dorf mit 2.700 Einwohnern. „Nicht wegkippen, da sind Blumenzwiebeln drin“, erklärte sie ihrer Familie. Im letzten August wurden die sterblichen Überreste schließlich gefunden. Ein Neffe hatte nach einem Streit – sie war wieder einmal betrunken und aggressiv – aufgeräumt.

Der in der Kriminalgeschichte beispiellose Fall erregte großes Aufsehen im ganzen Land. Und er setzte eine bizarre Erklärungsmaschinerie in Gang. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) etwa machte „die von der SED erzwungene Proletarisierung“ als eine wesentliche Ursache für Verwahrlosung in Ostdeutschland verantwortlich. Nach massiver Kritik erklärte er, er habe „keine Erklärung dafür“. Die Ratlosigkeit angesichts des 9fachen Kindsmords ist bis heute geblieben. Seit Ende April muss sich Sabine H. nun wegen 8fachen Totschlags durch Unterlassen vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) verantworten. Ein Fall ist nach DDR-Recht verjährt.

Das Gericht muss nun ohne Zutun der Angeklagten nachweisen, ob die Kinder vor ihrem Tod gelebt haben. Ein schwieriges Unterfangen, allein die Bestimmung ihres Geschlechts war gerichtsmedizinisch äußerst aufwändig. Auch die Suche nach den Gründen für das Handeln der Frau, die in der Untersuchungshaft vom Alkohol gelassen hat, an Krebs erkrankt sein soll und einen gefassten und netten Eindruck macht, ist mühsam. Die Strafkammer ist auf Zeugenaussagen angewiesen, sie muss sich auf die Äußerungen der Angeklagten beschränken, die sie gegenüber der Polizei, der Staatsanwaltschaft und ihrem psychiatrischen Gutachter gemacht hat.

Sabine H. hatte angegeben, sie könne sich nur an die ersten beiden Geburten erinnern. Das erste Kind sei im Bad ihrer Wohnung in die Toilettenschüssel gefallen, es habe ein blaues Gesicht und Schaum vor den Lippen gehabt. Das zweite Baby kam in einem Pensionszimmer in Goslar zur Welt. Sabine H. arbeitete damals für ein Dentallabor und war auf einem Lehrgang. Als eine Kollegin hereinkam, habe sie eine Decke über das wimmernde Kind geworfen. Bei den anderen sieben Geburten habe sie sich, immer wenn die Wehen einsetzten, bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Ihr Mann, so ist es in ihren Vernehmungsprotokollen festgehalten, habe von den Schwangerschaften und Geburten nichts mitbekommen.

Es gibt immer wieder Mütter, die ihr Kind heimlich zur Welt bringen, es unversorgt lassen oder töten. Aber eine Mutter, die über einen Zeitraum von zehn Jahren neunmal schwanger wird, sich weder für einen Abbruch noch für eine Adoption entscheidet, die einsetzenden Wehen im Delirium erlebt und die Leichen der Neugeborenen auf dem Balkon vergräbt? „Wir hatten schon drei Kinder, mein Mann wollte keine weiteren“, sagte sie nach ihrer Festnahme.

Ihre jüngste Tochter stammt aus einer Beziehung, die sie nach der Trennung von ihrem Mann hatte. Dem Exmann wurden bei der Scheidung die gemeinsamen drei Kinder zugesprochen wurden. Das Kind lebt heute bei ihrer Nichte, einer Tochter ihrer 15 Jahre älteren Halbschwester. Als diese geboren wurde, war Sabine H., das Nesthäkchen, sieben. Sie wuchs in dem Glauben auf, dass ihre Nichte ihre Schwester sei.

Die Schuld von Sabine H. ist auch deshalb schwer zu beurteilen, weil ihr Exmann, der Vater der drei mittlerweile volljährigen Kinder, nachweislich auch der Vater der getöteten Babys ist. Er will von all dem nichts mitbekommen haben: nichts von den Gewichtszu- und -abnahmen seiner Frau, nichts von den Geburten, nichts von der Beseitigung der toten Körper. Die Staatsanwaltschaft hält ihn für glaubwürdig. Deshalb ist er hier in Frankfurt nur als Zeuge geladen.

Sein Auftritt vor Gericht ist nach wenigen Minuten vorbei. Der 43-Jährige untersetzte Mann, ein ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter, versteckt sein Gesicht unter einem Basecap. Er macht von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, genauso wie die drei erwachsenen Kinder, die Mutter und die Schwester der Angeklagten. Weil Oliver H. auch die Verwendung seiner Aussagen der polizeilichen Vernehmung untersagt, lädt das Gericht die Richterin in den Zeugenstand, die ihn mehrere Stunden lang vernommen hat.

Sie sagt aus, dass Oliver H. nur zwei Kinder hatte haben wollen. Mehr als zwei seien auch bei seinen Kollegen bei der Staatssicherheit „nicht üblich“ gewesen. Deshalb habe er mit Kondomen verhüten wollen. Seine Frau habe ihm aber gesagt, dass das nicht nötig sei, sie nehme die Pille. Als sie ein drittes Mal schwanger wurde, habe sie ihm das erst „im letzten Drittel der Schwangerschaft“ erzählt. „Er hat seiner Frau Vorwürfe gemacht“, gibt die Richterin seine Aussage wider. Sabine H. hatte in ihrer Vernehmung angegeben, er habe „getobt“ und sie habe Angst bekommen, er würde ihr die Kinder wegnehmen. Nach dem dritten Kind, so die Richterin, hätten die H.s beschlossen, keine weiteren Kinder zu haben.

„Wahrscheinlich dachte ich bei der Geburt des vierten Kindes, dass es wegmuss“, sagte die Angeklagte, auf diese Zeit angesprochen, in einer Vernehmung.

Wäre es nach Oliver H. gegangen, hätte es gar keine Hochzeit mit Sabine H. gegeben. Sie war 17 Jahre alt, als sie ihn 1983 kennen lernte, wenige Monate später war sie schwanger. Vier Wochen vor der Hochzeit im Mai 1985 kehrte der als sehr verschlossen beschriebene Mann von einer Geschäftsreise zurück – mit einer Geschlechtskrankheit und der Nachricht, er habe da eine andere Frau kennen gelernt. „Er bot ihr an, sich zu trennen“, sagt die Richterin. Doch Sabine H. habe trotzdem heiraten wollen.

Die Vernehmungsrichterin gibt dann wieder, was mit gesundem Menschenverstand nicht zu glauben ist: „Als Quintessenz der Vernehmung ist herausgekommen, dass er nichts von den Schwangerschaften gewusst haben will.“ Seine Frau sei „mal mehr, mal weniger korpulent“ gewesen, „eine Veranlagung von der Mutter her“, meist habe sie weite Sachen getragen. Einmal habe er sie „allgemein nach einer Schwangerschaft gefragt, aber nicht zu einer konkreten“. Sie habe vehement verneint, schwanger zu sein. Auch auf dem Balkon, wo jahrelang die toten Babys vergraben waren, sei ihm nichts aufgefallen. Der Balkon sei das Hobby und der Lieblingsplatz seiner Frau gewesen, „im nüchternen oder betrunkenen Zustand“.

Es gibt keine Aussagen von Sabine H., die ihren Mann belasten. Stets hat sie betont, er habe nichts gemerkt. Etwas mehr Licht ins Dunkel bringt der Gerichtsgutachter Matthias Lammel, ein Psychologe und Neurologe, der sich viele Stunden „gut und konstruktiv“ mit der Angeklagten unterhalten hat. „Sehr aufmerksam“ habe sie aber darauf geachtet, nichts über die ihr vorgeworfenen Taten zu sagen. Seine Diagnose: „Es gibt keine Diagnose.“

Der Psychologe bescheinigt Sabine H. einen IQ von über 120, ab 130 gilt ein Mensch als hochbegabt. Sie leide weder an einer Nervenkrankheit noch an einer Persönlichkeitsstörung, er habe lediglich „Reifungsdefizite“ festgestellt. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen habe sie, obwohl sie eine Delegierung für die Erweiterte Oberschule gehabt habe, kein Abitur gemacht und sich stattdessen für eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin entschieden, „eher aus Trotz“. In einem Alter, „in dem die Mehrzahl der Menschen entscheidende Reifungsschritte durchmacht“, habe sie – „ein begabtes 17-jähriges Mädchen, das dachte, die Welt steht ihr offen“ – einen raschen Übergang zur Hausfrau und dreifachen Mutter vollzogen. „Das ist schon von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung“, sagt der Gutachter zu Beginn seiner dreistündigen Ausführung. Später habe sie die Schuld stets „in den Umständen gesucht, die sie nicht zum Zuge kommen ließen“. Sie habe „einen Nesthäkchenstatus“ erkennen lassen, sei sehr bedürftig nach Zuwendung gewesen. Und sie habe immer darauf gewartet, dass ihr Mann sie auf ihre Schwangerschaften anspricht.

Was der Gutachter über Oliver H. sagt, lässt den Verteidiger der Angeklagten aufhorchen. „Wenn ein Vollrausch eingetreten sein sollte, brauchte es für die Nachfolgehandlungen“ – gemeint ist das Beseitigen der Babys – eine weitere Person, „damit niemand etwas merkt“. Habe die Angeklagte aber alles allein gemacht, könne Alkoholrausch kein Schuldminderungsgrund sein. Der Verteidiger fragt nach: „Wenn meine Mandantin nach dem Geburtsvorgang im Vollrausch war, muss ein anderer die Spuren beseitigt haben?“ Der Gutachter nickt. „Das ist eine logische Schlussfolgerung.“

Solange die früheren Eheleute schweigen, wird es darüber keine Aufklärung geben. Als Oliver H. nach seiner kurzen Aussage an der Anklagebank vorbeigeht, auf dem Weg zum Richter, um sich die Fahrtkostenerstattung abzuholen, schaut Sabine H. ihn eindringlich an. Er nickt ihr zu.