Erweiterte Geschmäcker

Integrationsdebatten haben oft etwas Bemühtes. Tatsächlich bieten sie aber große Chancen – etwa im Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei. Die Kulturpolitik spielt dabei eine wichtige Rolle

VON ZAFER ȘENOCAK

Deutschland pflegt Sonderbeziehungen zu Frankreich und Polen. Eine ähnliche Sonderstellung müssten auch die Beziehungen zur Türkei einnehmen, in diesem Fall nicht historisch bedingt, sondern gegenwartsbezogen. Einiges deutet darauf hin, dass diese Notwendigkeit von den politischen Entscheidungsträgern beider Länder endlich auch verstanden wird, nicht als Entwicklungshilfe an die Türkei, sondern als existenzielles Interesse Deutschlands. Die bisherigen Ansätze, die vor allem in einer Fremdheitsrhetorik fußten, reißen unüberwindbare Gräben auf. Gerade aufgrund der modischen Kulturkampfstimmung führt eine Strategie der Abschottung und Ausgrenzung in eine gefährliche Zone gegenseitiger Entfremdung und erschwert die Akzeptanz der türkischen Wohnbevölkerung in Deutschland, schwächt aber auch ihre Bereitschaft, in ein vertraulicheres Verhältnis zur deutschen Gesellschaft zu treten.

Ob mit oder ohne deutschen Pass, die Beziehungen dieser Menschen an ihr Herkunftsland sind eng und sie werden auch in naher Zukunft eng bleiben. Das mag manchen stören, der unter Integration eine einseitige Orientierung an die Gesellschaft und Kultur Deutschlands versteht. Sie bietet aber auch mit einer gut abgestimmten Türkeipolitik manche Chancen, die bislang wenig genutzt worden sind. Gemeint ist hier nicht in erster Linie die Wirtschaftspolitik. Schon heute ist Deutschland mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei, die deutschen Unternehmen haben einen Spitzenplatz unter ausländischen Investoren. Natürlich ist das alles auch wichtig für den deutschen Arbeitsmarkt. Aber ein ganz anderes Feld drängt sich hier auf: das Feld der Kulturpolitik, das in Identitätsfragen und in Fragen der Geschichtsaufarbeitung hineinreicht.

Allmählich scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass der Dialog der Kulturen sich nicht in der Organisation von Konferenzen erschöpfen darf, auf denen sich Fachleute treffen. Vielmehr geht es um kulturelle Projekte, die von Deutschland und von der Türkei aus gemeinsam geplant und angeschoben werden. Sie sollen möglichst breite Gesellschaftsschichten erreichen, vor allem die Jugend. In den Außenministerien beider Länder wird derzeit an solchen Projekten gearbeitet. Ebenso wird die vom Bundesinnenminister Schäuble für den Herbst angekündigte Islamkonferenz nur dann wirklich Erfolg haben, wenn Erfahrungen aus der Türkei in diese hineinfließen. Die Vereinbarkeit zwischen westlicher Lebensweise, Demokratie und islamischer Religion wird in der Türkei seit fast einem Jahrhundert eingeübt und steht heute auch dort auf dem Prüfstand.

Vor allem viele Politiker in der CDU/CSU haben sich lange gegenüber einer engen kulturellen Zusammenarbeit mit der Türkei verschlossen gezeigt. Aber auch im linken Spektrum gab es viele Bedenken. So unterschiedlich die kulturellen und politischen Motive der Ablehnung waren, das Ergebnis war dasselbe: eine Stärkung der Entfremdung zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen Deutschen und Türken. Lange Zeit glaubte man tatsächlich, auf die Türkei verzichten zu können, um türkische Staatsbürger in Deutschland zu integrieren. Eigentlich hoffte man insgeheim, dass möglichst viele von ihnen wieder zurückkehren würden in die ursprüngliche Heimat. Deutschland sollte keine Heimat für sie sein. Davon aber geht niemand mehr aus. Und es sieht auch so aus – das zeigen Erfahrungen in anderen Ländern –, dass schrille Assimilationsforderungen keinen Erfolg haben werden.

Stattdessen muss an einer behutsamen und nüchternen Annäherung zwischen zwei Völkern gearbeitet werden. Zwei verspätete Nationen, mit einer Reihe von traumatischen Erfahrungen in ihrer Geschichte, starken Identitätsfantasien und Frakturen treffen hier aufeinander. Und es gibt zudem noch große Mentalitätsunterschiede, die oft vorschnell nur auf die unterschiedlichen Glaubenswelten zurückgeführt werden.

Im Alltag aber gelingt dennoch manches, was in den bemühten Integrationsdebatten oft verloren zu gehen droht. Die Türken haben Deutschland kulinarisch und künstlerisch stark verändert. Sowohl in der Küche als auch in der Literatur und in der Filmkunst weht inzwischen ein opulenter türkischer Wind, der mehr ist als nur eine ethnische, folkloristische Färbung. Er führt zunehmend zu einer Veränderung des Geschmacks, vielleicht auch zu einer Erweiterung des Geschmackssinns. Und natürlich beeinflusst auch das Müll trennende, umweltbewusste, pazifistische, friedliche Deutschland die Türken. Die deutschen Nachkriegserfahrungen, die Debatten um die deutsche Geschichte mit ihren selbstkritischen, aber auch kathartischen Ansprüchen gehen auch an den Türken nicht spurlos vorbei. Wie aber bringt man den türkischen Nationalstolz, den Hang zum Militarismus, die unkritische Haltung gegenüber Autoritäten, mit den Erfahrungen aus der deutschen Geschichte zusammen? Schon allein diese Frage verdeutlicht, wie wichtig eine deutsch-türkische Tuchfühlung, eine konsequente kulturelle Kommunikation zwischen Deutschland und der Türkei heute ist.

Mehr denn je wird heute ein Schlüssel gesucht, der emotionale Räume öffnet, in denen sich sowohl Deutsche als auch Türken wiederfinden können. Der Schlüsselbegriff zur Integration lautet Identifikation. Doch große Sportereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft machen es deutlich: Fahnen schwenkende Deutsche und Türken sind noch weit weg voneinander. Halbmond und Adler passen noch nicht so recht zusammen. Dasselbe Land zu teilen bedeutet nicht automatisch, am Patriotismus des anderen teilzunehmen. Patriotismus ist derzeit in Deutschland in aller Munde. Die durch Weltkriege und Verbrechen in deutschem Namen geschundene deutsche Seele ist auf der Suche nach einem neuen Selbstbewusstsein. Ein Selbstbewusstsein, das sich nicht gegen andere richtet, sondern für sich selbst steht. Für ein solches geläutertes Selbstverständnis könnte die erfolgreiche Nachkriegsgeschichte Deutschlands Impulsgeber sein.

Doch es gibt auch andere Zeichen und Signale. Die „Türkendebatte“ in Deutschland bekommt zu oft einen falschen Ton. Die Integrationsforderung an die Türken wird fast immer an ihre Integrationsunwilligkeit gekoppelt. „Die Türken wollen sich nicht integrieren“, heißt es immer wieder in Verlautbarungen vieler Politiker. Als wäre auf einer geheimen Türkenkonferenz eine solche Entscheidung gefallen. Richtiger dagegen wäre zu sagen, die Vorstellungen über Integration gehen auseinander. Deutlicher nämlich müsste dann auch die Frage gestellt werden, ob es heute schon so selbstverständlich ist, mit türkischen Namen als Deutscher zu gelten. Was von den Türken heute zunehmend gefordert wird, ist eine einseitige Orientierung Richtung deutsche Gesellschaft und Kultur. Aber welches Deutschland ist das Ziel?

Das Deutschland in manchen Köpfen weicht von dem realen Land draußen oft erheblich ab. Dieses Deutschland ist noch ziemlich homogen. Ein gesunder deutscher Patriotismus kann nur dann entstehen, wenn die durch Zuwanderung entstandenen Veränderungen ins deutsche Bewusstsein Zugang finden, dort Platz nehmen, so wie der Zuwanderer in deutschen Städten Platz genommen hat.

Dem aber steht ein Gefühl der Überfremdung entgegen. Hier sind die Zuwanderer gefordert. Sie müssen diese Gefühle ernst nehmen und auch mitarbeiten, um sie abzubauen. Ein verdrängtes, durch den Schuldkomplex im Zaum gehaltenes deutsches Nationalgefühl bietet kein sicheres Fundament mehr. Aus der Labilität heraus wachsen gefährliche extreme Gefühle der Selbstbezichtigung und Selbstverherrlichung. Und fast immer richten sich diese Gefühle gegen andere.