Der Zeichner des Piraten

STÖRTEBEKER-MYTHOS Warum wird jemand Pirat? Dieser Frage geht der Ostfriese Harm Bengen in seinem neu aufgelegten Störtebeker-Comic nach. Das ehemalige KBW-Mitglied beschreibt die Freibeuter als Klassenkämpfer – Ähnlichkeiten mit sich selbst sind nicht ausgeschlossen

Den Hamburger Bürgern hat Bengen die Gier ins Gesicht gezeichnet. Weit reißen sie ihre Augen auf, die Münder stehen offen

VON VERONIKA WAWATSCHEK

Ein bisschen ähnelt der Comic-Zeichner Harm Bengen seiner eigenen Störtebeker-Figur. Nicht äußerlich, aber in seiner Einstellung, mit der er quer zu den herrschenden Verhältnissen steht. Den Job in einer Werbeagentur warf er nach einer Woche hin, weil ihm die Konsumwelt zuwider war. Als Mitglied im KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, versuchte er sich als freier Zeichner – ein schwieriges Unterfangen. Heute lebt er von Cartoons und Karikaturen für Tageszeitungen, Politikerköpfe aber kommen ihm nicht auf den Zeichentisch.

Nebenher der Tagesarbeit hat Bengen Comic-Bücher herausgebracht. Sein Störtebeker-Comic wurde kürzlich neu aufgelegt. 80 Seiten widmet er dem berühmtesten Piraten Norddeutschlands. „Als Ostfriese bekommt man Störtebekers Geschichte ja quasi mit der Muttermilch mit“, sagt Bengen. Die erste Version des Comics entstand 1993. Jetzt sind ein Prolog, der Störtebekers Kinderjahre beschreibt, ein Making-of und weitere Szenen hinzugekommen.

Die berühmteste Szene fehlt auch in der neuen Fassung nicht: Eins, zwei…“ zählen die Kameraden jede weitere Person, an der der Pirat mit abgeschlagenem Kopf vorbeitaumelt. Sie hoffen auf die versprochene Begnadigung und feuern den Geköpften an: „Weiter, Störtebeker, weiter.“ Doch es hilft am Ende nichts. Die Obrigkeit weigert sich, Wort zu halten.

Es sei ihm, sagt Bengen, nicht um ein Heldenepos gegangen, sondern um die geschichtlichen Hintergründe. Die genossenschaftlich organisierten Seefahrer seien in Schwierigkeiten geraten, als die Schifffahrt mit der Hanse in Privatbesitz überging. Er wollte herausfinden, warum jemand Pirat wurde. Er wollte die Klassengegensätze zeigen.

Über seine eigene Vergangenheit beim KBW mag der Zeichner nicht viel erzählen. Im Störtebeker aber scheint sie durch. Störtebekers Vitalienbrüder nennt Bengen Likedeeler, also Gleichteiler. Als die gefangen genommen werden, lässt Bengen den Piraten noch einmal mit der Hamburger Obrigkeit verhandeln. „Störtebeker versucht noch einmal, die Pfeffersäcke dort zu packen, wo sie am empfindlichsten sind. Beim Geld“, heißt es in Bengens Kommentar, und Störtebeker sagt: „Wenn ihr uns freilasst, will ich euch den ganzen Elbstrand von Cuxhaven bis Hamburg mit Golddukaten pflastern.“ Den Hamburger Bürgern hat Bengen die Gier ins Gesicht gezeichnet, weit reißen sie ihre Augen auf, die Münder stehen offen.

Fast zwei Jahre hat er für die erste Version seines Störtebeker-Comics geforscht. „Die Recherchen dafür haben länger gedauert als das Zeichnen selbst“, sagt Bengen, der erst eine Ausbildung als Lithograf und Offset-Montierer absolvierte, bevor er Ende der 70er Jahre in Bremen Grafikdesign studierte. Schon das Studium war ihm zu sehr auf Werbung fixiert. Nach seinem kurzen Zwischenspiel in einer Werbeagentur kehrte er zu seinem Ursprungsberuf zurück – und begann nebenher für Stadtmagazine wie den Bremer zu zeichnen. Dabei lernte er Til Mette, den Mitbegründer der Bremer taz, kennen. „Wir saßen oft noch lange und haben am Layout gebastelt“, sagt er.

Lukrativ waren die Jobs nicht, aber sie machten Spaß. Mittlerweile kann er von seiner Arbeit für Tageszeitungen und Magazine leben, zu seinen Abnehmern gehören die Sächsische Zeitung, die Märkische Allgemeine, der Eulenspiegel und gelegentlich die Financial Times Deutschland. Morgens um zehn Uhr beginnt Bengen, die Nachrichtenlage zu sichten, damit gegen Mittag das Thema steht. Auf seinem Schreibtisch steht ein Computer, daneben liegen Farbstifte, Pinsel, Aquarellfarben und ein plattdeutsches Wörterbuch – für die Cartoons in ostfriesischen Lokalzeitungen. Etwa drei Stunden braucht er zum Zeichnen. Unter dem Schreibtisch schnarcht der einäugige Kater Gino.

Während Bengen die Karikaturen am Computer macht, entstehen seine Comics auf Papier. Acht Bände umfasst allein die „erotische Horrorkomödie“ „Sandra Bodyshelly“, die sich um eine Vampirin gleichen Namens dreht. Fans würden ihn öfter nach einer Fortsetzung fragen, aber derzeit seien keine neuen Projekte geplant, sagt Bengen.

Momentan ist der Zeichner mit seinem Umzug beschäftigt – erst vor wenigen Wochen ist er aus Neu-Ulm nach Ostfriesland zurückgekehrt. Endlich lebt er nun wieder in Deichnähe, wenige Minuten sind es dorthin mit dem Fahrrad. Er genieße die Ruhe, sagt Bengen.

Die Aufregung um den geklauten Störtebeker-Schädel aus dem Museum für Hamburgische Geschichte hat er natürlich mitbekommen. „Damit hab ich aber nichts zu tun“, sagt er und lacht. „Auch wenn ich mich schon immer für Störtebeker interessiert habe.“

Harm Bengen: Störtebeker, Lappen Verlag, 80 farbige Seiten, 12 Euro