Mythen, Märtyrer, Heilsvisionen

Der neue populistische Protest ist kein heimtückischer Anschlag auf Zivilisation und Demokratie. Er ist Seismograf für Fehlentwicklungen und macht Korrekturen möglich

Ein dynamischer, plebiszitär unterfütterter Reformismus ist ohne Populismus schwer vorstellbar

Populismus ist schlecht. Ein solch tugendhaftes Verdikt würde gewiss Frau Christiansen jederzeit in ihrer Sendung inbrünstig vertreten können, sicher auch Herr Kerner und wie sie alle öffentlich-rechtlich heißen. Und nun hat man es in diesen Tagen auch noch einmal in der taz vom 30. Mai an dieser Stelle nachlesen können. Linke seien, so ihr Kommentator Christian Semler, im krassen Unterschied zu Populisten ganz unbedingt einem rationalen Begriff von Politik verpflichtet.

Das mag als lexikalische Definition so richtig sein. Mit der wirklichen Geschichte von Politik, Parteien und sozialen Bewegungen hat eine solche gewiss löbliche Vernünftigkeit allerdings wenig zu tun. Am Anfang waren nicht zufällig alle heute durch und durch staatstragenden Parteien hemmungslos populistisch; zu Beginn stand stets der „Appell au peuple“, wie es der Historiker Thomas Nipperdey einmal treffend pointierte. Der frühe Liberalismus war in seiner Verschmelzung mit dem Nationalismus originär populistisch. Das katholische Milieu agierte im Kulturkampf der 1870er-Jahre mit genuin populistischen Methoden gegen die protestantisch-liberale Führungsschicht in Staat, Wirtschaft und an Universitäten. Für das hybride proletarische Welterlösungsversprechen der marxistischen Vorkriegs-SPD galt das Gleiche.

Die Konservativen gerieten in den 1890er-Jahren durch die Koalition mit dem wüst sozialreaktionär agitierenden Bund der Landwirte in einen hemmungslos populistisch lärmenden Verbund. Fast 100 Jahre später war die basisdemokratische, zunächst antiparlamentarische Entlarvungs- und Erlösungsrhetorik der Grün-Alternativen durch und durch populistisch. Ob liberal, katholisch, sozialdemokratisch oder auch grün – immer nährte sich der Populismus in der parteibildenden Zeit aus rückwärts gewandten Motiven, aus Erinnerungen und Bildern von vermeintlich harmonischeren Zeiten.

Rein rational ging es nirgendwo zu, auch und erst recht nicht bei der sozialistischen Linken mit ihren Mythen, Märtyrern, Ritualen und nachgerade mystischen Heilsvisionen. Über eine konzise, realistische, zukunftsadäquate Programmatik verfügte keine der in ihrer Entstehungszeit populistischen, heute aber solide etablierten Parteien. Auch und gerade die Linke hat sich über 75 Jahre geweigert, an präzisen Umgestaltungskonzeptionen für Ökonomie und Verwaltungen zu arbeiten. Daher muss man den neuen populistischen Protest nicht unbedingt und sogleich schreckhaft als heimtückischen Anschlag auf Demokratie, Zivilisation und Rationalität bemenetekeln. Populismen sind vielmehr eine elementarer Seismograf für Fehlentwicklung in Demokratien, bieten somit aber auch die Chance zur Selbstkorrektur eines offenen Systems.

Die bösen populistischen Abenteurer kommen schließlich nicht bar jeder Ursache nach oben. Sie haben vielmehr Erfolg, wenn eine Gesellschaft defekt ist, präziser: wenn die staatlichen Repräsentativorgane an Legitimation verloren haben, wenn die etablierte politische Klasse nicht mehr überzeugt, wenn sich ganze Gruppen von den entscheidenden politischen Netzwerken und Aushandlungssystemen ferngehalten fühlen, wenn sie sich kulturell verloren, politisch verwaist, ja: ökonomisch betrogen fühlen. Wichtiger als die bildungsbürgerliche Empörung über den ungezogenen, derben und stillosen Populismus ist somit die Erklärung für seine Entstehung, seine Schubkräfte, seine Resonanz.

Kurzum: Populismus – und damit eine neue Parteibildung – kommt auf, wenn sich ganze gesellschaftliche Gruppen im parlamentarischen System nicht mehr kulturell und politisch vertreten fühlen. Wenn die Eliten zu sehr zusammenrücken, sich sozial einseitig rekrutieren, in ihrer Kommunikation nach unten abschotten, miteinander eine nahezu identische politische Philosophie teilen. Dann schlägt die Stunde des antielitären Protests. Das ist der Humus für den neuen, im Ganzen ja recht gemäßigt und gedrosselt agierenden Linkspopulismus in Deutschland – und nicht nur hierzulande.

Dennoch ruft die Existenz dieses eher behutsamen Linkspopulismus bei der theoriegeleiteten Linken gleichsam pawlowsche Abwehrreflexe hervor, da sie Populismus regelmäßig in Verbindung bringen mit unverzeihlicher Demagogie, hohlen Parolen, ja: rechter Ideologie.

Christian Semler ist in dieser Phalanx einer antipopulistischen Linken der Bannerträger strenger Rationalität. Doch gibt es die eine Rationalität nicht. Die Rationalität der einen ist nicht die Rationalität der anderen. Was den einen klugen Köpfen einsichtig erscheint, werden die anderen trotz gleichermaßen hoher Intelligenz unbegreiflich finden. Denn natürlich leben wir nicht in einer sozial und normativ unstrittigen „Rationalität“.

Überhaupt: Wie rational ist die Rationalität? So kann man frei nach Paul Watzlawick fragen. Unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedlichen Lebensgeschichten haben unterschiedliche Rationalitäten, besonders wenn es sich um gesellschaftliche Entwürfe handelt.

Auch Rationalität wird subjektiv ausgelegt, durch je differente Perspektiven, soziale Orte und kulturelle Werte der Betrachter und Interpreten. Rationalität wird konstruiert – und das keineswegs emotionsfrei, nicht allein durch den puren, verlässlich objektiven Verstand.

Im Übrigen gibt es nicht die geringste rationale Begründung dafür, dass allein Rationalität Gesellschaften voranbringt, sie humaner, friedlicher, gerechter, tüchtiger oder auch: poetischer, musischer, literarischer, leidenschaftlicher macht. Die Geschichte kennt mindestens ebenso viele Beispiele barbarischer Rationalität, von rechts wie – wirklich nicht zu vergessen – von links.

Populisten haben Erfolg, wenn die Eliten zu sehr zusammenrücken, sich sozial einseitig rekrutieren

Wenn man Populismus in erster Linie als Politikform charakterisiert, mögen sich einige der Furchtsamkeiten der rationalistischen Linken auflösen. Schließlich weiß jeder linke Aktivist und Versammlungsredner, dass er auf einer Kundgebung dann am meisten Energien freisetzt, besonders erfolgreich Apathien und Resignationen überwindet, wenn er in einfacher, bildreicher, zuspitzender, polarisierender Sprache die Kampagne führt, wenn er die privilegierten Schichten der Gesellschaft mit emotionaler Schärfe attackiert, wenn seine Metaphern von der Alternative leuchten und schillern.

Im Grunde ist ein dynamischer, plebiszitär unterfütterter Reformismus ohne einen Schuss Populismus schwer vorstellbar, historisch auch kaum auffindbar. Staubtrocken, streng rational und nüchtern, mit allein redlicher Solidität wird man weit reichende politische Entwürfe in den Krisen moderner Gesellschaft mit Erfolg nicht unter das Volk bringen können.

Übrigens auch das: Ein Übermaß an Emotionalisierung war es jedenfalls nicht, was die Linke in Deutschland in den großen Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts chronisch scheitern ließ.

FRANZ WALTER