LiMos Geheimnisse

Spuren des Denkens: Heute wird in Marbach das neue Literaturmuseum der Moderne eröffnet – ein großes gläsernes Archiv, in dem 1.300 Exponate vom literarischen Leben in Deutschland erzählen

VON IRA MAZZONI

„Ach das Erhabene. ganz unerfahrbar für die Menge, da es aus einer Wolke tönt“, tippt Gottfried Benn, der Wort-Wucht-Drechsler, auf die Rückseite einer Speisekarte der Stadthalle Hannover aus dem Jahr 1935, die Krebssuppe, Schweinsbraten und Eisbombe für 2,25 Mark bietet.

Pathos und Banalität erscheinen lediglich als zwei vergilbte Seiten eines Blatts – das neben 1.300 anderen Schaustücken die deutsche Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts repräsentieren soll. Das neue Literaturmuseum der Moderne – neckisch LiMo abgekürzt, um schon mal einen Markenanspruch à la MoMA anzumelden – versucht dem Erhabenen und dem falschen Pathos aus dem Weg zu gehen, indem es vorgibt, nicht mehr zu sein als ein Schaudepot, ein Spiegelbild dessen, was auf der Schillerhöhe in Marbach seit 1955 wächst und wuchert. Mit unabsehbaren Folgen: ein Bergwerk des Zu-Papier-Gebrachten, Verzettelten, Aufgezeichneten, Abgespeicherten, Nichtweggeworfenen. Heute wird das LiMo feierlich vom Bundespräsidenten eröffnet.

Die Expansion des Stiftens und Sammelns, Nachlassens und Erbens hat den Ort baulich geprägt. Am Anfang stand das neubarocke Belvedere-Schloss für das 1903 eröffnete Schillermuseum und -archiv, herausgehoben und abgesetzt vom winkeligen Fachwerk der Provinzstadt, die Schillers Geburtsort ist. 1955 erhielten die Marbacher Forscher, bis dato mit den schwäbischen Dichtern des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt, den Auftrag, „vor allem Nachlässe von Schriftstellern der neueren und neuesten Zeit zu sammeln und der Literatur der Moderne, die größtenteils aus Deutschland vertrieben worden ist, ein Haus der Sammlung und der Forschung zu geben“.

1973 breitete sich ein riesiger, den Höhenlinien des Berghangs folgender Betonbunker neben dem Museumsschloss aus. 1990 war die nächste Erweiterung des Archivs nötig, und auch der jetzige Museumsbau bringt neue Stauflächen. 14.000 Quadratmeter nehmen die unterirdischen Magazine ein. Nachlässe und Vorlässe von 1.100 Schriftstellern und Gelehrten, 800.000 Buchtitel, 50 Millionen Blatt Papier und 200.000 Kunstgegenstände aller Art lassen den Wahnsinn des Denkens und Gedenkens materiell greifbar werden.

David Chipperfield Architects (Entwurf/Projektleitung Alexander Schwarz) ist in diesem verbauten Umfeld auf dem Plateau des Geistes ein kühler, zurückhaltender, zugleich vermittelnder wie selbstbewusster Museumsbau geglückt. Kein Tempel, sondern ein Pavillon in der Tradition der klassischen Moderne, der vielfach gestaffelt die schwäbische Landschaft und das Licht einfängt und so weit wie erlaubt ins Innere lenkt. Kein Pantheon mit Säulengang, sondern eine Glasvitrine mit versteinertem Lamellenvorhang. Diese Parkarchitektur schiebt den Klassizismusverdacht und das falsche Pathos einfach lächelnd beiseite. Elegant wird der Besucher von der Himmelsterrasse in die Tiefen des Archivarischen geleitet, vom Licht zum holzgetäfelten Dämmer, wo die Schätze in langen, über mannshohen Glasvitrinen ausgebreitet liegen. Hunderte von senkrechten Leuchten, vielfach gespiegelt, lassen das Dunkel als Geheimnis erscheinen. Wie in einem Erzstollen bewegt man sich durch die Gassen des Hauptausstellungssaals.

Wer immer das Glück hatte, in Marbach zu forschen, der kennt die Faszination des Archivs: diese Katakomben, in denen grüne Kästen lagern, auf denen nur Namen stehen. Dahinter vermutet man lauter Geheimnisse, die nur entdeckt und mühsam entziffert werden müssen. Diesem immensen Stofflager Sinn zu entlocken, das ist die Herausforderung für Archivare und Forscher. Das Museum ist daher als gläsernes Archiv konzipiert. Die Museumsleiterin Heike Gfrereis ordnet die Fundstücke strikt chronologisch in parallelen Reihen, die Manuskripte getrennt von den Briefen, die Bücher (eigene und fremde) getrennt von persönlichem Krimskrams. Das meiste ist Papier, schwungvoll beschrieben, klein bekritzelt, vielfach gestrichen. In vier Lagen übereinander auf gläserne Böden gelegt, leicht geneigt, kommen auch die Unterseiten der Blätter zu ihrem Recht. Das sorgfältig geplättete Taufkleidchen von Thomas Mann liegt in der Nähe von Nietzsches gespenstischer Totenmaske, Hans Blumenbergs Führerschein mit dem einzigen Foto des „Philosophen der unendlichen Erzählung“ nicht weit vom Röntgenbild, das Karl Jaspers gequälten Thorax zeigt. In der ersten Reihe ruht das millionenschwere Manuskript von Kafkas „Prozess“, in der letzten findet man Zuckertütchen aus dem „Café Franz Kafka“ in Prag 1999. In Marbach wird eben alles gesammelt, was im weitesten Sinne zum literarischen Leben gehört. Von Hubert Fichte gibt es Entwürfe zur 19-bändigen „Geschichte der Empfindlichkeit“, die grafisch vollendete Meisterwerke, aber literarisch ein Puzzle des Scheiterns sind.

Dass Michael Ende seine Kinderbücher in Schulhefte schrieb, ist genauso erhellend, wie Penzoldts antikische Manier, auf Papierrollen zu produzieren, kurios wirkt. Es bleibt dem Zufall überlassen, was der Besucher unter 1.300 Exponaten für sich entdeckt. Eine gewisse Lesehilfe und Führung gibt ein „M3“ genannter Laptop – ein Gerät, das auch Archäologen bei der Feldforschung für ihre Kartierungen benutzen. Man braucht diesen nicht ganz handlichen Navigator, um die nur mit den Nachnamen der Autoren oder Eigentümer bezeichneten Exponate genauer kennen zu lernen.

Angeblich ermöglicht die Ausstellung voraussetzungsloses Entdecken. Nur Neugier müsste gegeben sein. Allein, die Neugier erwächst doch meist aus einer gewissen Kenntnis. Dabei verweigert das Museum – typisch für die Moderne – jede Art von Meistererzählung und begnügt sich mit assoziativen Verknüpfungen des Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen. So bleibt ein dunkles Grundrauschen des Ideellen, ein Raunen des papiernen Zeitalters, das sich trotz elektronischer Medien weiter verzettelt. Und so ist die Ausstellung trotz des betonten Materialismus unterschwellig pathetisch und in gewisser Weise so exklusiv, wie die internationale Forschungsstätte nun einmal ist. Die Frage, ob man Literatur ausstellen kann, ist eindeutig mit Nein beantwortet. Nur Spuren des Denkens, Schreiben und Lebens sind abgelegt in der Höhle der Musen.