Bagdad wird zur Hauptstadt der Morde

Allein im Monat Mai wurden über tausend Gewaltopfer in der zentralen Leichenhalle eingeliefert. Das ist die höchste Zahl seit Kriegsbeginn. Doch die US-Regierung veröffentlicht weiterhin optimistisch klingende Berichte zur Entwicklung im Irak

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Das Pentagon zeigt sich weiterhin notorisch optimistisch, was die Entwicklung im Irak anbelangt. Vierteljährlich präsentiert das US-Verteidigungsministerium dem Kongress einen Bericht mit dem schönen Titel „Fortschritte bei der Stabilität und Sicherheit im Irak“. Diese Woche war es wieder so weit. „Nicht nur politisch und wirtschaftlich, auch im Sicherheitsbereich befindet sich das Land weiterhin im Aufschwung“, lautet das Fazit. Den Irakern wird wachsendes Vertrauen bescheinigt, dass sich ihre Situation verbessern wird.

Fernab von den Gängen des Pentagons, in den Hallen des zentralen Leichenschauhauses in Bagdad, klingen solche Schlussfolgerungen zynisch. Dort werden Zahlen veröffentlicht, die seit der US-Invasion vor drei Jahren ihresgleichen suchen. Allein im Mai wurden 1.398 Leichen von Menschen eingeliefert, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Viele weisen Foltermerkmale auf. Dabei sind alle jene, die im gleichen Zeitraum einem Bombenanschlag zum Opfer fielen, nicht einmal mitgerechnet. Die wenigen Geschichten hinter diesen Morden, die an die Öffentlichkeit geraten, sprechen von einer zunehmenden Grausamkeit. Jeden Morgen werden überall im Land neue Leichenfunde gemacht: Opfer eines nicht erklärten Bürgerkrieges zwischen Sunniten und Schiiten oder einer straflos agierenden Bandenkriminalität.

Gestern wurden in der Nähe der Stadt Bakuba in einer Obstkiste die abgetrennten Köpfe von neun Menschen entdeckt. Einige der bereits verwesenden Köpfe hatten verbundene Augen. Angaben über die Identität der Ermordeten oder das Mordmotiv wurden zunächst nicht gemacht.

Dagegen könnten bei der jungen Frau, die im Süden Bagdads mit einem Kopfschuss aufgefunden wurde, selbst ernannte Sittenwächter am Werk gewesen sein, denn als solche betrachten sich die marodierenden schiitischen Milizen oder sunnitischen Dschihad-Kämpfer zunehmend. Der Polizei zufolge trug das Opfer enge Jeans. Nicht immer trifft es Frauen. Vergangenen Monat kursierten Flugblätter, die eine Fatwa zitieren, laut der Männern das Tragen von kurzen Hosen untersagt ist. Daraufhin wurden letzte Woche der Trainer des irakischen Tennisteams, Hussein Raschid, und zwei seiner Spieler auf offener Straße in Bagdad erschossen.

Wer es sich leisten kann, denkt daran, die Koffer zu packen. Selbst dieser Schritt kann jedoch das Leben kosten. Der Salhija-Geschäftsbezirk im Zentrum Bagdads ist bekannt für seine Reisebüros. Von dort fahren auch die Busse ins sicherere Ausland, nach Jordanien oder Damaskus, ab. Wer hier auf die Abreise wartet, hat in der Regel sein Erspartes als Reisekasse dabei.

Am Montagmorgen gegen neun Uhr fuhr eine Gruppe Bewaffneter in den Tarnuniformen einer irakischen Eliteeinheit des Innenministeriums mit einem Dutzend Autos vor und verschleppte über 50 Männer an der Busstation und aus den Reisebüros. Manche wurden von ihren Familien weggerissen, ihnen wurden Handschellen und Augenbinden angelegt. Dann wurden sie in die Autos gezwungen und an einen unbekannten Ort gebracht. Es bleibt offen, ob es sich bei dem Kommando um Kriminelle handelte, die die Uniformen gestohlen hatten, oder um schiitische Milizen, die als Todesschwadronen oft im Namen des Innenministeriums operieren und diesmal versuchten, an schnelles Geld zu kommen.

Das Ganze geschah einen Tag, nachdem maskierte Unbekannte im Norden Bagdads zwei Busse angehalten und die Passagiere nach Sunniten und Schiiten getrennt hatten. Die Schiiten wurden gezwungen, sich auf den Boden zu legen. Unter dem Ruf „Im Namen des Islams haben wir für euch Verräter ein Massengrab ausgehoben“ wurden anschließend 21 Männer exekutiert.

Angesichts dieser Vorfälle gibt der neue irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki kein gutes Bild ab. Er war vor drei Wochen mit den Worten angetreten, „maximale Gewalt“ anzuwenden, um der Lage Herr zu werden. Doch ausgerechnet die beiden für die Sicherheit wichtigen Ressorts Inneres und Verteidigung sind bisher unbesetzt. Zu groß sind die Rivalitäten innerhalb des schiitischen Regierungsbündnisses.