Singen von Hass und Kindermord

OPERNAUSGRABUNG Hans Neuenfels und Ivor Bolton bemühen sich in der Bayerischen Staatsoper in München um „Medea in Corinto“ von Johann Simon Mayr, einem fast vergessenen Komponisten

„Medea in Corinto“ bleibt auf einem mittleren emotionalen Erregungsniveau und meidet die Gipfel ebenso wie die dunklen Abgründe

Der Medea-Stoff geht eigentlich immer. Wie eine, wenn auch vom Geliebten verratene und verlassene Mutter dazu kommt, ihre Kinder umzubringen, das ist eine der unabgegoltenen Fragen, auf die sich immer wieder neu eine Antwort versuchen lässt. Auf der Theaterbühne ist zwischen antiker Mustertragödie, Grillparzers Mehrteiler und trashiger Resteverwertung mittlerweile so ziemlich jede Spielart von Motiverforschung zu erleben.

Für die Opernbühne hat Aribert Reimann gerade in Wien mit seiner „Medea“ Uraufführungsfurore gemacht. Eine der Vorläuferversionen stammt von Johann Simon Mayr (1763–1845), dem in Bayern geborenen, ziemlich italienischen unter den deutschen Komponisten. Dass er zu Lebzeiten bekannter war als Mozart, hat die Rezeptionsgeschichte gründlich korrigiert. Und obwohl sich jetzt in München Ivor Bolton am Pult des willig mitziehenden Bayerischen Staatsorchesters der Musik annahm, ein im Ganzen passables Protagonistenensemble zur Verfügung hatte und kein Geringerer als Regiealtmeister Hans Neuenfels in einem Bühnenbild von Anna Viebrock Mayrs „Medea in Corinto“ aus dem Jahre 1813 inszenierte, wird sich daran nichts ändern.

Sicher gibt es Momente, in denen die Musik wie Mozart klingt oder an Beethoven erinnert. Genau das aber ist ihr Problem. An sie selbst erinnert man sich kaum, wenn sie sich allzu routiniert an einem obendrein nicht sehr stringenten Libretto entlangpirscht, auf einem mittleren emotionalen Erregungsniveau bleibt und die Gipfel mit Weitblick ebenso meidet wie die wirklich dunkel gefährlichen Abgründe. Sie singen von Hass und Rache oder Kindermord und es klingt doch immer noch irgendwie gemütlich oder beschwingt.

Vor allem im zweiten Teil offenbart sich die Routine, das wird zu einer gefühlten Endlos-Soap. Und obwohl, weder von musikalischer Dichte noch von dramatischer Stringenz behindert, jede Menge Platz für die bei Hans Neuenfels üblichen personellen Aufstockungen bleibt und die Palastinstallation von Anna Viebrock den inszenierten Subtext, mit dem Neuenfels das Stück offenbar zu retten versucht, ständig präsent hält, geht sogar ein erfahrener Hinterfrager wie er der Ernsthaftigkeit in die Falle, mit der er sich auf seine Rettungsexkursion begibt.

Am Schreibtisch der Macht

Dabei hat die Palastarchitektur von Anna Viebrock einen opulenten Erkenntniswert. Es ist ein mehrstöckiges aufgeschnittenes Gebäude. Über einem tiefgaragenartigen Geschoss befindet sich eine Belle Etage mit einem Schreibtisch der Macht und einer Balustrade für effektvolle Auftritte. Die deutschen, schön in Versalien gesetzten Übertitel werden in ein Fassadenelement projiziert. Und darüber befindet sich ein kleines Häuschen, mit dem gewöhnlich üppiger Dachschmuck während einer Rekonstruktion umbaut wird.

Am Ende, wenn Medea ihren letzten großen Racheauftritt hat, entschwebt das Häuschen gen Schnürboden, was niemanden mehr wundert, weil die Welt halt aus den Fugen ist. Dieses Reich Kreons gibt sich betont zivilisiert, wahrt dabei vor allem die Fassade und hat die mythisch-barbarischen Rückstände seiner Herkunft noch nicht ins Symbolische sublimiert.

Barbarische Reste

Hier werden vor stilisiert eleganten Damen und den quer durch die Zeiten uniformierten Männern (Kostüme: Elina Schnizler) zitternden Jungfrauen die Kehle durchgeschnitten oder gefangen gehaltene Sklaven zur Paarung verdonnert. Hier sieht König Kreon aus wie ein Mayr-Zeitgenosse mit Rigoletto-Buckel. Hier ist Creusa, Kreons Tochter und Medeas Konkurrentin, allein ihrem Machtkalkül verpflichtet und Jason ziemlich operettig uniformiert. Hier kommt der abgemeldete Ex von Creusa, Egeo, wie Zorro mit drei Don-Giovanni Klonen, hat aber noch ein modernes Einsatzkommando in der Hinterhand, das im ersten Finale alles niedermetzelt, in der Pause dann aber doch besiegt wird und schließlich am Ende erneut auftaucht. So etwas bleibt auch bei Neuenfels problematisch, legt Schwächen eher bloß, als sie produktiv zu machen.

Trotz allem ist die Titelpartie eine Herausforderung, der sich Nadja Michael rückhaltlos und nicht ohne Risiko überlässt, wobei sie manche forsch angegangene Höhe in dramatische Gestaltung ummünzt. Solide schlagen sich Alastair Miles als Kreon, Elena Tsallagova als Creusa. Während bei den beiden Tenören der Egeo von Alek Shrader einen stärkeren Eindruck hinterließ als der Giasone von Ramón Vargas. Die Protagonisten wurden in München bejubelt.

Nächstens Bayreuth

Hans Neuenfels, dessen nächste Station in diesem Jahr die Eröffnung der Bayreuther Festspiele mit Wagners „Lohengrin“ ist, nahm mit der Gelassenheit seiner Regisseurerfahrung die Buhs entgegen, vor denen Mayr vor allem durch den Abstand der Jahre geschützt ist. Am Ende bleibt die Frage, ob es Sinn macht, die erheblichen Potenziale eines Hauses wie München mit einer Mayr-Ausgrabung zu binden und beispielsweise den Schwetzinger Festspielen so ein lohnendes Schmuckstück wie Gretrys „Andromaque“ zu überlassen.

JOACHIM LANGE