Adieu, mein heimlicher Kubist

Sein Leben besteht weiterhin aus 5-Minuten-Würfeln, fünf Minuten für ein Bild, fünf Minuten für einen Song, fünf Minuten für einen Umzug nach New York: Dort lebt seit Neuestem Jim Avignon und hat schon eine CD samt dickem Bilderbuch veröffentlicht

VON CHRISTOPH BRAUN

Jim Avignon ist ein heimlicher Kubist. Er lebt ein Leben, das aus lauter Würfeln besteht. Wo eine normale Biografie den Tag als Referenzgröße kennt, sind es bei Avignon fünf Minuten. Er malt ein Bild in fünf Minuten, er schreibt einen Songtext in fünf Minuten, und den dazugehörigen Song auch. Seine Freunde versichern sogar, dass der kleingewachsene, schmächtige Typ mit den Blinzelaugen nur deshalb so produktiv sein kann, weil er auch das Schlafen in ebendieser Zeiteinheit erledigt. Avignon schlafe fünf Minuten in der U-Bahn, fünf Minuten beim Warten auf Bekannte. Manchmal bleiben ihm sogar noch die fünf Minuten zwischen Ausstellungaufbauen und Vernissagen-Beginn. Aber nur manchmal.

Sein neuestes Produkt belegt mal wieder Avignons Output dank Schnelligkeit. „Scratchbook“ besteht aus zwei Teilen. Zunächst ist es ein neuer Band mit Avignon-Bildern. Davon findet man in „Scratchbook“ gleich 100 Stück. Dazu liegt eine CD bei, auf der Avignon seinen 5-Minuten-Pop zelebriert. Es ist seine achte CD, und immer hat er seine Sound-Veröffentlichungen auch dazu genutzt, neue Bilder vorzustellen. Aber gleich ein ganzes Skizzenbuch hat Avignon einem Tonträger bislang noch nicht beigelegt. Wahrscheinlich rührt die Idee vom Umbruch im eigenen Leben. Denn nach längeren Aufenthalten in New York im vergangenen Jahr hat er nun endgültig seine Wohnung am Paul- Lincke-Ufer in Kreuzberg aufgegeben. Und ist ganz nach Brooklyn, N.Y., USA gezogen. Es war einfach mal Zeit, nach fast 20 Jahren Berlin. Vor diesem Hintergrund wirkt „Scratchbook“ wie ein Tagebuch des Umzuges. Die Songs sind im vergangenen September und Oktober produziert worden, und auch ein Großteil der Bilder ist in der Zeit des Pendelns zwischen altem und neuem Zuhause entstanden.

Eine dieser Avignon-Figuren, die in ihrem Stil Erinnerungen an afrikanische Masken und an Comics weckt, fährt auf einem Baumstamm in rasendem Tempo einen Fluss hinunter. Schnell dahingekritzelte Paare umarmen sich vertraut oder kehren Probleme unter Teppiche. „Global Player“ werden mit Melone und Zigarre karikiert. Private und soziale Themen in dieser leicht verständlichen Bildsprache hat Avignon schon dargestellt, seit er in den 80ern in Karlsruhe mit dem Sprayen aufhörte, als sich ein Freund auf der Flucht vor der Polizei verletzte. Neu am „Scratchbook“ sind die Abbildungen, die es tatsächlich bei der Bleistiftskizze belassen.

So bleiben oft die Stimmungen offen: Eine Melancholie scheint die Figuren befallen zu haben, und die Message-Ausrufezeichen früherer Tage sind verschwunden. Natürlich gibt es noch die klassischen Tapeten-Hintergründe – aber zugenommen haben einfarbige Backgrounds. Viele der Bilder entstehen im Zug, wenn Avignon durch Mitteleuropa von Clubabend zu Vernissage reist. Vulgärpsychologisch und deshalb auch kunstwissenschaftlich ordinär gesprochen: Diese Bilder sind in einer Übergangszeit entstanden, in der es anscheinend galt, alles, alles zu notieren, was passiert.

Dieses Akribische scheint sich nicht mehr so gut mit den fetten Ausrufezeichen, dem Willen zur Knallfarbe und den Entweder-Oder-Gesten des Neunzigerjahre-Partykünstlers zu vertragen. Denn der war Avignon: Neben einigen berühmten Aufträgen für Uhrenhersteller und Fluglinien hat er in und um Berliner Clubs ausgestellt und war seit lockeren zehn Jahren mit seinen primitivistischen Figuren ein regelrechter Pop-Promi. Sogar in Hongkong und Moskau hatte er Fanclubs. Als Mitglied des Jet-Sets der komischen Künstler hatte er ab 1996 zusammen mit so vielen sein Wohnzimmer in der Galerie berlintokio. Deren Party-mit-Kunst-Idee hat Avignon in die Friendly Capitalism Lounge gerettet, die er im kommenden Herbst zum zehnten Mal gemeinsam mit der Künstlerin Fehmi Baumbach veranstalten wird.

Da muss er dann noch mal aus Übersee angejettet kommen, will denn auch als Ein-Mann-Unterhalter Neoangin noch einmal in Erscheinung treten. Spätestens dann wird er wieder diese selbst gebastelten Masken aufsetzen und diesen Drei-Minuten-Pop singen – leidenschaftlich in den Revieren von House, Hiphop, Vogelstimmen und den Stranglers wildernd und niemals in Moll. So lange singt „Scratchbook“ ein Lied davon. Ein Lied über die letzten fünf Minuten im Leben des Jim Avignon.

Jim Avignon: „Scratchbook“. Lieblingslied Records/AliveJim Avignon aka Neoangin noch mal in Berlin: 10. 6. in der nbi