die erde ist eine scheibe fenchelsalami von WIGLAF DROSTE
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Früh am Tag saß Doktor Lidstrand in seiner Küche und las in der Wurst. Aufmerksam blätterte er den Aufschnitt durch, Scheibe um Scheibe, sorgfältig, als hoffe er ernsthaft, dort etwas Wissenswertes zu entdecken. Und er wurde ja auch fündig, Tag für Tag.

Versonnen, liebevoll beinahe, betrachtete er die italienische Mortadella, die in buddhistischer Ausgeglichenheit vor ihm lag und ganz offensichtlich auch gar nichts anderes wollte als das: herumliegen und Mortadella sein. Lidstrand rollte eine Scheibe zusammen, steckte sie sich in den Kopf und verdrückte sie mit großem Behagen. Dankbar nahm er sich vor, angelegentlich eine Monografie über die Weisheit der Wurst zu verfassen; sicher eine Sache für Suhrkamp.

Die Fenchelsalami lächelte ihn an, wohlwollend ruhte sein Blick auf ihr, schweifte dann begierig weiter zur spanischen Chorizo, die feuerrot und frisch aufgebraten vor ihm lag. Einen Augenblick lang nahm eine Eselswurst seine Aufmerksamkeit in Anspruch. „Man muss den Esel noch schreien hören, dann ist die Wurst gut“, hatte sein Vater zu sagen gepflegt, rituell und zuverlässig redundant, jedes einzelne Mal, wenn Eselswurst auf dem Frühstückstisch gestanden hatte. Er hatte den Satz an den Sohn vererbt, wie einen Fluch; zwar sprach Lidstrand ihn niemals aus, aber er dachte ihn, Morgen für Morgen. Ein Anfall fatalistischer Missmut drohte ihn zu übermannen. Man kommt nicht los von der Wurst, ging es ihm durch den Kopf, bis es ihm endlich gelang, den Unfug beiseite zu schieben.

Seine Augen wandten sich dem Corned Beef zu. Dunkelrot und aspikig glibbernd lag es da, nicht eben eine optische oder kulinarische Attraktion. Die Anwesenheit des Corned Beefs lag in den Tiefen der Zeit begründet: Als Kind hatte Lidstrand die Worte Corned Beef nicht aussprechen können und stattdessen „Piepkorn“ gesagt, sehr zur Freude der Fleischereifachverkäuferin, die ihm stets eine Scheibe davon zusteckte und meist noch eine Zugabe folgen ließ, die sie „eine schöne Scheibe Jachtwuast“ nannte.

Wurst, dachte Lidstrand. Wurst ist die Lösung. Wurst ist das Universum, Wurst ist alles, Allah und Gott, Manitou und Mensch, Adam und Eva, Hundkatzemaus. Er war jetzt ganz klar, wurstklar gewissermaßen: Wurst ist der Mensch, ein Presssack. Nie weiß man, was drin ist. Unter der Pelle, unter der Haut – was ist da? Wie sind wir beschaffen, woraus sind wir gemacht? Aus Blut und Plocken? Aus zusammengefegten Resten? Ist die Erde eine Scheibe Schlimmeaugenwurst?

Das Klopfen an der Tür riss Lidstrand aus dem wurstenen Brausen seiner Gedanken. Wie jeden Morgen stand sein alter Freund Doktor Hahn in der Tür, begrüßte ihn, lehnte gewohnheitsmäßig feste Nahrung ab, sprach, wie zu sich selbst: „Liebes, sei eine Maus und reich mir den Underberg“, bekam das Gewünschte, drehte den Verschluss unterm Packpapier ab, setzte, noch immer im Stehen, das Pinneken an den Hals, goss sich die Brachialflüssigkeit in den Schlund, schüttelte sich wie welt-, wurst- und allesverachtend, setzte sich endlich und ächzte: „Bwah! Nach dem fetten Essen brauchte ich das.“

Spiegel-Trinker wissen mehr, dachte Lidstrand und klappte die Wurst zu.