Editorial

Ob wir mit dem Auto, dem Bus oder – geschützt vom Plastikhelm – Fahrrad fahren: Wir hängen am Öl

Der Rücktritt des Bundespräsidenten, der Streit um seine möglichen Nachfolger, das schwarz-gelbe Sparpaket – die Agenda der deutschen Medien reicht derzeit kaum über die Landesgrenzen hinaus, allenfalls noch nach Südafrika zur am Freitag beginnenden Fußball-WM. Dabei ist es gerade mal zwei Wochen her, dass die Welt anfing, per Livestream gebannt auf ein Loch am Meeresgrund zu starren, um zu sehen, ob die Experten des Ölkonzerns BP endlich die jüngste klaffende Wunde des Ölzeitalters verschließen können.

Der Versuch, alles mit Schlamm und Zement zuzuschmieren, scheiterte. Immerhin wird nun ein Teil des Öls abgesaugt, doch das hält die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA nicht mehr auf. Weiterhin strömt Minute für Minute Öl in den Golf von Mexiko. Und das wird wohl auch noch im August so sein, wenn Deutschland einen neuen Bundespräsidenten hat, das Sparpaket von allen Seiten durchleuchtet wurde und die Fußballnationalmannschaft längst im Sommerurlaub ist.

Deshalb haben wir uns entschieden, uns heute noch einmal ausführlich dem Thema Öl zu widmen. Dabei ging es uns nicht darum, das offensichtliche Versagen der Verantwortlichen zu beschreiben und zu kritisieren. Das haben wir getan und werden es weiter tun. Doch allein mit dem Finger auf andere zu zeigen, reicht nicht. Die Ölpest im Golf von Mexiko ist nur ein weiterer Kollateralschaden, den unsere vom Öl abhängige Wirtschaft in Kauf nimmt. Seit 1960 kam es weltweit zu rund 70 bedeutenden Unfällen auf Bohrinseln, Tankern oder Raffinerien – mit entsprechenden Folgen für die Umwelt. Und dabei sind die täglichen Katastrophen, wie undichte Pipelines oder andauernde politische Konflikte um das Öl, nicht eingerechnet.

Wir sind als Konsumenten Teil dieses Wirtschaftssystems. Wir hängen am Öl, egal ob wir mit dem Auto, dem Bus oder – geschützt von Mikrofasern und Plastikhelm – Fahrrad fahren. Und damit das weitergehen kann, muss das Öl aus immer tieferen Schichten herausgeholt werden – mit entsprechendem Risiko.

So gesehen ist dieses Loch im Golf auch unser Loch, und wir sind nicht nur Opfer, sondern Teil einer jeden Ölpest.

Geht es auch anders? Es wird gehen müssen, denn schon jetzt ist Öl, global gerechnet, zu knapp und teuer, um weiterhin diese zentrale Rolle spielen zu können. Die chemische Industrie sucht nach Ersatzstoffen aus der Pflanzenwelt, andere, wie die von uns porträtierte Familie Krautwaschl, setzen auf Verzicht und bewussten Konsum. An der grundsätzlichen Infragestellung unseres Wirtschaftssystems kommen wir jedenfalls nicht vorbei. Wir werden noch lange an der Droge Öl hängen, können uns aber Tag für Tag ein wenig mehr befreien. Es ist eine Frage des Willens. STEPHAN KOSCH