Die lange europäische Denkpause

Was soll die EU werden: ein Bundesstaat, eine „Gemeinschaft der Anderen“ oder die Brüsseler Bürokratie, die wir schon haben? Die Debatte kommt nicht in Gang

Die Unterschiede innerhalb der EU sind oft größer als zwischen der Gesamt-EU und den USA Wer die politische Vielfalt will, aber gegen „Multikulti“ auftritt, ist unglaubwürdigFür Technokraten ist Brüssel nur eine von vielen nicht demo-kratisch gewählten Institutionen

Bereits im vergangenen Jahr bemerkte der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker über die offizielle Denkpause, die die EU sich nach dem Nein der Franzosen und Niederländer auferlegt hatte: „Ich sehe die Pause, aber wenig Nachdenken.“ An dieser Situation hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Regierungschefs Europas haben die Denkpause nun um ein weiteres Jahr verlängert, aber neue grundlegende Visionen bieten sie den europäischen Bürgern nicht an. Allerdings auch kein prinzipielles Bekenntnis zu einem bewusst visionslosen Pragmatismus, was an sich auch denkbar wäre. Wie aber soll es dann zu der von Angela Merkel in ihrer ersten europapolitischen Erklärung im Bundestag angemahnten „Neubegründung“ Europas kommen?

Hat die scheinbare Gedankenlosigkeit der Pause ihren Grund auch darin, dass die Diskussion über Europa-Konzepte in eine Sackgasse geraten ist? Mitnichten. Theoretisch konkurrieren derzeit drei prinzipielle Visionen der EU, deren Vor- und Nachteile von den Europäern mit Gewinn zu debattieren wären.

Zum Ersten finden sich immer noch versprengte Verfechter der Union als eines zukünftigen „Staates von Nationalstaaten.“ Diese oftmals etwas unpräzise als „Föderalisten“ bezeichneten Denker haben die – zumindest vorläufig gescheiterte – Verfassung immer als einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat bezeichnet. Ein solcher Bundesstaat lässt sich auf mancherlei Weise rechtfertigen: bewusst moralisch, indem man argumentiert, die moralische Substanz der Nationalstaaten sei durch ihre kriegerische Vergangenheit zutiefst kompromittiert, oder als eher praktische Präventivmaßnahme, um die potenziell immer konfliktgierigen Nationalstaaten im Zaume zu halten.

Aber auch aus ganz anderer, in gewisser Weise gar entgegengesetzter Perspektive lässt sich ein EU-Staat fordern: So hat beispielsweise der britische Politikwissenschaftler Glyn Morgan in einem vielbeachteten Buch über „Rechtfertigungen des europäischen Superstaates“ zu zeigen versucht, dass ein robustes Konzept gesamteuropäischer Sicherheit auch einen gesamteuropäischen Staat verlange; es sei von den europäischen Eliten verantwortungslos, sich in einer permanenten strategischen Abhängigkeit von den USA einzurichten. Und dann ist da immer noch das Argument, allein eine starke EU könne das „europäische Sozialmodell“ retten.

Die vergangenen Jahre haben deutlich werden lassen, dass es in den europäischen Staaten wohl schlicht keine Mehrheiten für einen europäischen Bundesstaat gibt; nicht zuletzt dies hat die Verfassungsdebatte – entgegen den Intentionen vieler Europa-Enthusiasten – deutlich vor Augen geführt. Diese Skepsis hat vielleicht nicht zuletzt damit zu tun, dass viele der föderalistischen Argumente bei genauer Inspektion eher zweifelhaft sind: So gibt es vor allem das eine europäische Sozialmodell so überhaupt nicht. Die Unterschiede zwischen beispielsweise den skandinavischen Ländern, den Mittelmeerstaaten oder den „liberalen atlantischen Ländern“ wie Irland und Großbritannien sind zum Teil sehr viel gravierender als die Differenzen zwischen Europa als ganzem und den USA.

Als bewusste Alternative zur Vision eines europäischen Bundesstaates hat sich in den vergangenen Jahren ein Bild der EU etabliert, das man als „supranationalen Multikulturalismus“ bezeichnen könnte. Diese Perspektive läuft auf eine Union zu, deren Aufgabe vor allem darin besteht, Vielfalt und Differenz anzuerkennen und zu erhalten. Statt ein klassischer, homogener Staat will dieses Europa eine „Gemeinschaft von Anderen“ sein, eine Art „people of others“, um eine Formulierung des Rechtswissenschaftlers Joseph Weiler aufzugreifen, bei der die Toleranz zur politischen Primärtugend wird.

Deswegen sollte die Union auch niemals zu einer bundesstaatlich verfassten Demokratie werden – denkbar sei allenfalls eine Demoikratie, also die Herrschaft nicht eines Volkes oder demos, sondern von Völkern oder demoi, die sich bewusst ihrer Verschiedenheit versichern und diese erhalten möchten. Vieles klingt an dieser Vision attraktiv. Es fragt sich nur, wie glaubwürdig europäische Regierungschefs sind, die solch einen supranationalen Multikulturalismus propagieren und gleichzeitig innenpolitisch mit Emphase den vermeintlichen Illusionen von „Multikulti“ abschwören – wie dies in fast allen Ländern inzwischen zur politischen Standardrhetorik geworden ist. Wie wollte man das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung willkürlich auf einzelne Politikbereiche oder -ebenen beschränken, ohne in den Verdacht der Heuchelei zu geraten?

Die dritte Vision der EU ist im Grunde keine, sondern eine Rechtfertigung der real existierenden Brüsseler Bürokratie, welche im Übrigen an Helmut Schmidts berühmte Bemerkung gemahnt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Aus dieser technokratischen Perspektive hat Brüssel heute Funktionen inne, die auch innerhalb von Nationalstaaten oft an Institutionen delegiert werden, die nicht demokratisch gewählt sind – Zentralbanken sind das klassische Beispiel. Die Politikfelder hingegen, denen die Bürger die größte Bedeutung beimessen, bleiben unter der Regie der Mitgliedsstaaten – vor allem Sozialstaat und Bildung. Folglich ist Brüssel keine Regierung in spe, sondern eine regulierende Behörde – und dies oftmals zum Vorteil der europäischen Konsumenten, der beispielsweise bald keine Roaming-Gebühren mehr bezahlen müssen.

Über diese drei Euro-Visionen lässt sich mit guten Gründen debattieren – keine ist ganz offensichtlich überlegen oder unterlegen. Hier zeigt sich aber auch, dass die Debatte um Europas Zukunft tiefer ansetzen muss als bei der plumpen Frage „Wie viel Europa wollen wir?“. Es muss erst einmal klar werden, an welchen Maßstäben man verschiedene Euro-Visionen eigentlich messen will – und nicht alle Maßstäbe sind wiederum miteinander vereinbar oder auch nur vergleichbar.

Insofern sind diejenigen, die die Pause wirklich zum Nachdenken nutzen möchten, auf eine viel tiefere Frage zurückgeworfen: Gibt es ein europaweit konsensfähiges oder zumindest mehrheitsfähiges Politikverständnis? Sollte die Antwort hier negativ ausfallen, ist vielleicht das prinzipielle Bekenntnis zum Pragmatismus bis auf weiteres noch die ehrlichste Alternative zu allen Visionen. Das klassische Hai- beziehungsweise Fahrrad-Argument – die EU müsse sich ständig fortbewegen, um nicht zu sterben oder umzufallen, und sei deshalb stets auf neue Großprojekte am Horizont angewiesen – ist empirisch nicht haltbar: Die Pause mag für Föderalisten frustrierend sein, aber sie beweist auch, dass eine EU, die stillsteht, nicht gleich sterben muss.

JAN-WERNER MÜLLER