Der Versehrte

AUS TÜBINGEN ULRIKE BRETZ

Im Wohnzimmer liegt ein UNO-Blauhelm. Statt eines Nachttischs hat Peter Hämmerle eine Transportkiste der Bundeswehr neben das Bett gestellt, ins Bücherregal Bildbände wie „Deutsche Fallschirmjäger“ und „Krieg der Panzer“. Zwei gerahmte Poster, Schwarzweißfotografien einer Bikinifrau, lehnen an der Wand, auf dem Fensterbrett Bilder seiner vierjährigen Tochter Lotta, blond, lächelnd. Statt eines Kleiderschranks steht im Schlafzimmer ein Spind, auf dem Boden liegen Hanteln. In Hämmerles Dachwohnung am Tübinger Stadtrand sieht es aus wie in einer Kaserne, nur gemütlicher. Er lebt allein hier.

Der große Mann mit dem kantigen Gesicht, den streng zurückgekämmten Haaren und hellen blauen Augen war schon dreimal für die Bundeswehr im Ausland. Nicht als Berufssoldat, sondern als Reservist. Freiwillig. „Als vollwertiger und anerkannter Bestandteil der Streitkräfte“, wie es auf der Homepage der Bundeswehr heißt. Zum ersten Mal 1993, als Blauhelm-Soldat der Vereinten Nationen in Somalia, später mit der SFOR, der Nato-Schutztruppe für Bosnien-Herzegowina. „Das war eine Abwechslung“, sagt Hämmerle. Und, natürlich, die Bezahlung und das Abenteuer spielten eine wichtige Rolle. Heute findet er, dass beides, Geld und Abenteuer, das alles nicht wert waren. Denn dann kam der Einsatz in Kabul.

Anfang 2003 hatte sich der Wirtschaftsinformatiker entschieden, seine Stelle bei einer Firma im Stuttgarter Raum zu kündigen und ein paar Monate später als Verkaufsleiter in der Kosmetikbranche anzufangen, „mit gutem Gehalt und Dienstwagen“. Um die Zeit bis zum neuen Job zu überbrücken, meldete sich der Hauptfeldwebel für seinen dritten Einsatz als Reservist bei der Bundeswehr – bei der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (Isaf) unter Führung der Nato. „Es hat einfach hervorragend in meine Planung reingepasst.“

Seine Aufgabe in Afghanistan war es, die Soldaten – „Engländer, Amerikaner, Türken, Kanadier“ – vom Flughafen in Kabul zu ihren jeweiligen Isaf-Stützpunkten zu fahren, über die unwegsame Dschalalabad-Route, die noch von den Russen gebaut wurde. „Die ist schon morgens um vier Uhr voll mit Menschen, Kamelen, Eseln und Ochsenkarren“, berichtet Hämmerle. Nur nicht am 7. Juni 2003. „An diesem Morgen war die Straße menschenleer.“ Es hätte ihn stutzig machen können, aber der Zusammenhang ist ihm erst nach dem Bombenanschlag klar geworden. Heute glaubt er, dass die Afghanen gewarnt waren. „Schließlich wollen Attentäter keine Feinde im eigenen Land.“

Der Tübinger macht sich noch heute Vorwürfe deswegen – obwohl er weiß, dass viel Zufall im Spiel war. Denn eigentlich ist der Samstag kein Flugtag: „Es ist der Tag, an dem man die Fahrzeuge pflegt und auch mal sich selbst.“ Aber an jenem 7. Juni landete eine Sondermaschine in Kabul, und weil die nicht leer zurückfliegen sollte, nutzten deutsche Soldaten die Chance, einen Tag früher als geplant ihren Heimaturlaub anzutreten. Also stellte Hämmerle den Transport zusammen.

Um acht Uhr morgens fuhr er vom Feldlager Camp Warehouse los. In seinem Wolf-Geländewagen war er der Konvoiführer, hinter sich zwei Busse, einer nur mit Gepäck, „einer voll mit 29 glücklichen Heimfahrern“, als Abschluss dahinter ein Jeep. Der Konvoi war noch in Sichtweite des Lagers, als ein Taxi, beladen mit 150 Kilo Sprengstoff, erst auf den Gepäckbus zuhielt, abdrehte und dann von hinten in den Bus mit den Soldaten raste. „Der schoss wie eine Rakete nach vorne“, erinnert sich Hämmerle. „Mein erster Gedanke war: Wir sind auf eine Mine gefahren. Der Bus war total zerfetzt.“ Vom Auto des Attentäters, der später der al-Qaida zugerechnet wurde, war nur noch der Motorblock übrig. Trotz der Angst vor Scharfschützen leistete Hämmerle 45 Minuten lang erste Hilfe, bis jemand vom Camp da war. Noch heute erinnert er sich an den Staub überall, 40 Grad Hitze, abgerissene Gliedmaßen, „Millionen von Mücken und den Geruch nach Blut. Den habe ich immer noch in der Nase.“

Erst im Camp kam der Zusammenbruch: „Ich hörte nicht auf zu zittern, bekam einen Heulanfall und konnte nicht mehr stehen.“ Man tauschte seine blutdurchtränkte Uniform aus und nahm ihm die Waffe ab, „sonst hätte ich mir vielleicht etwas angetan“. Am Abend erfuhr er, dass vier Soldaten bei dem Anschlag ums Leben gekommen waren, etliche wurden schwer verletzt. 24 Stunden später war Hämmerle schon wieder im Einsatz. Er wurde er zum General zitiert, „ins klimatisierte Gebäude, wo die Männer mit manikürten Fingernägeln und sauber gestutzten Bärtchen sitzen“. Soldaten, die sich im Einsatz wie im Urlaub fühlten: „Sie wollten von mir, dass ich an freien Tagen Sightseeing-Touren organisiere“, erinnert sich der Tübinger.

„Nach dem Anschlag hat keiner mehr nach einer Tour gefragt.“

Einen Monat blieb der Reservist in Kabul, dann schickte man ihn nach Deutschland zurück – er hatte nächtelang nicht geschlafen. „Die haben gesagt: ‚Hämmerle, es geht nicht mehr.‘ “ Aber auch zu Hause konnte er nicht mehr schlafen. Bis heute. „Ich wache nachts schreiend auf“, sagt Reservist Hämmerle. „Ich erinnere mich an jede einzelne Sekunde des Anschlags.“ Immer wieder holen ihn die Bilder ein. Dann setzt er sich in eine ruhige Ecke und wartet ab, bis das vorbeigeht. So ein Flashback kann jederzeit kommen. Nur wenn er mit seiner Tochter spielt, sagt er, hat die Angst keine Chance.

Kurz nachdem er zurück in Deutschland war, kam der Bescheid der Bundeswehr: „Ihr Einsatz wurde vorzeitig beendet.“ Nur mit Hilfe eines Bekannten vom truppenpsychologischen Dienst, der erkannt hatte, dass der Mann psychologische Hilfe brauchte, konnte er durchsetzen, dass die Wehrübung auf dem Papier verlängert wurde. So bezahlte die Bundeswehr wenigstens die Heilbehandlungen – als Zivilist hätte er keine Hilfe von ihr zu erwarten gehabt.

Der Aufenthalt im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm, wo er nach seiner Rückkehr auf Armeekosten behandelt wurde, half ihm nicht. Ebenso wenig die monatelangen Behandlungen in psychosomatischen Kliniken in ganz Deutschland. Immer wieder diagnostizierten die Ärzte ein posttraumatisches Belastungssyndrom, in den USA wird es Post Vietnam Syndrom genannt. Es ist die Reaktion des Körpers auf ein extremes psychisches Trauma, bei Hämmerle zusätzlich gepaart mit Tinnitus auf beiden Ohren durch die Bombenexplosion.

Seinen zugesagten Job bei der Kosmetikfirma hat Hämmerle nie angetreten. Auch die Bundeswehr übernahm den Reservisten nicht – als Berufssoldat war der damals 41-Jährige schon zu alt. Also steckte man ihn als Angestellten in die Wehrbereichsverwaltung nach Stuttgart. „Dort hatte ich überhaupt nichts zu tun. Und einen Bürojob wollte ich sowieso nie machen“, klagt Hämmerle.

Im November 2004 stellten die Ärzte bei ihm einen Tumor im Gehirn fest. Gutartig zwar, aber schwierig zu entfernen. Seit der Operation ist Hämmerle krank geschrieben, vor wenigen Wochen hatte er den zweiten Eingriff. Das Krankengeld ist inzwischen ausgelaufen, seit Mitte Mai lebt er von Hartz-IV. „Das ist für mich der absolute Ruin“, sagt er. Mit der Bundeswehr hat er gebrochen, so wie sie ihn gebrochen hat: „Ich dachte, dass die Bundeswehr hinter mir steht. Heute lache ich mich über diesen Gedanken tot.“

Ein Jahr ist es her, dass er mit seiner Anwältin bei der Wehrbereichsverwaltung in Stuttgart den Antrag gestellt hat, das Trauma als Wehrbeschädigung anzuerkennen, denn dann würde er weiterhin Versorgungskrankengeld bekommen. Bislang kam keine Antwort. „Es ist doch paradox, dass die Bundeswehr einerseits die Behandlungen übernimmt, aber kein Versorgungskrankengeld zahlt“, sagt seine Anwältin. Deshalb ist Hämmerle entschlossen, weiterzukämpfen – für mehr als nur die Weiterzahlung des Versorgungskrankengelds: „Ich will bezahlt werden wie ein aktiver Hauptfeldwebel“, sagt er. Denn als Beamter würde er im Krankheitsfall sein Gehalt auf Dauer weiterbezahlt bekommen. „Wäre ich ein aktiver Hauptfeldwebel, dann wäre alles kein Problem für mich.“ Dann würde er auch, wie die bei Einsätzen verletzten Bundeswehrangehörigen, bis heute psychologisch regelmäßig betreut und nicht nur alle paar Wochen von einem Truppenpsychologen angerufen. So finden die Treffen ohne ihn statt.

Dass Reservisten nicht ausreichend abgesichert sind, ist beim Reservistenverband in Bonn nichts Neues. „Da gibt es eine Versorgungslücke, und das ärgert uns“, kritisiert Gerd Höfer, stellvertretender Präsident des Verbands. Der SPD-Bundestagsabgeordnete, der auch im Verteidigungsausschuss sitzt, kämpft dafür, dass diese Lücke geschlossen wird. „Wer Reservisten haben will“, findet Höfer, „der muss auch anders mit ihnen umgehen.“ Der Fall Hämmerle ist für den Verband exakt so ein Fall, wie man ihn immer befürchtet hat.

Auch beim Bundesministerium der Verteidigung sieht man Handlungsbedarf bei der Frage, wie Soldaten, die im Einsatz verletzt wurden, dauerhaft eine berufliche Perspektive bei der Bundeswehr geboten werden kann – vor allem dann, wenn sie ihre zivile Laufbahn nicht fortsetzen können. Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums teilt auf Anfrage mit, derzeit werde an der „Umsetzung einer Weiterverwendungskonzeption“ gearbeitet. Dafür werde es auch eine Gesetzesänderung geben. Wann das sein wird, lässt sie offen. Nötig wäre sie – schließlich sind laut eines Sprechers des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr unter den 7.000 Soldaten im Ausland fast 600 Reservisten.

Hämmerle hat seine Soldatenpflicht beispielhaft erfüllt. So steht es auf der Urkunde, die er bekommen hat, zusammen mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold, für „ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und Fleiß“. Das Ehrenkreuz liegt in einer Vitrine in seinem Wohnzimmer, neben dem UN-Barett und Orden. „Von dem Stück Blech“, sagt er, „kann ich mir nichts kaufen.“