Der schweigsame Vorreiter

REISESTOPP Joachim Gauck erhält viel Lob und Tadel für seinen angeblichen Boykott der Winterspiele in Sotschi. Dabei ist bislang nur gewiss: Der deutsche Bundespräsident drückt sich vor einer Erklärung

Kaum war Robert Harting am Sonntag zum Sportler des Jahres gekürt, da bemühte man sich schon um seine Stellungnahme zu staatstragenden Themen. Der Sommersportler wurde befragt, was er davon halte, dass Bundespräsident Joachim Gauck die Winterspiele in Sotschi boykottieren wolle. Und wie gewohnt ließ sich der redselige Diskuswerfer nicht lange bitten. Harting erklärte klipp und klar: „Das ist das falsche Signal.“

Die nun schon eine Woche währende Aufregung um Gaucks Termingestaltung steigert sich immer mehr. Nachdem sich zunächst nur Hinterbänkler der CDU und SPD kritisch zu Gaucks Vorhaben geäußert haben, soll nach neuesten Meldungen des Spiegels auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Verärgerung darüber zum Ausdruck gebracht haben, dass sie in die Pläne des Bundespräsidenten nicht eingeweiht worden sei und Gauck zudem nichts gegen die politische Interpretation seines Fernbleibens unternehme.

Es ist in der Tat eine absurde Dynamik entstanden. Gaucks Nichtreise wird unentwegt politisch gewertet – als Protest gegen die Menschenrechtslage und homophobe Gesetzeswerke in Russland –, ohne dass dieser seine Entscheidung jemals mit einer politischen Wertung verknüpft hätte. Wenn überhaupt von einem Boykott gesprochen werden kann, dann von einem Presseboykott des Bundespräsidenten. Ebenso wie die Kritik ließ Gauck auch all die netten Lobesbekundungen unkommentiert. Zu den Gratulanten zu dem vermeintlichen Sotschi-Boykott zählen bislang unter anderem Human Right Watch, der Menschenrechtsausschuss im Europäischen Parlament und natürlich auch Claudia Roth von den Grünen.

Joachim Gauck wird mittlerweile gar zum großen europäischen Vorbild in Sachen Menschenrechtspolitik hochstilisiert. Der französische Präsident François Hollande sowie andere Regierungsvertreter des Landes würden sich dem Boykott von Gauck anschließen, meldete Spiegel Online am Wochenende. Mit aller Konsequenz: Auch dort äußert man sich nicht zu seinen Motiven. Ein seltsamer Protest. Dabei zählen Winterspiele eigentlich nicht zu den Pflichtterminen deutscher Bundespräsidenten. Auch Horst Köhler ließ sich 2010 in Vancouver nicht an der Rodelbahn oder am Schießstand der Biathleten blicken. Warum auch? JOHANNES KOPP