Er ist der Mann mit dem Plan

MALEREI Adolf Beutler war 42 Jahre lang eingesperrt, weil er Autist ist. Jetzt schafft er Kunstwerke, die sich schneller verkaufen, als sie entstehen. Er zeichnet deshalb nicht mehr Bilder, denn so etwas wie Nachfrage bedeutet ihm nichts. So wenig wie sein Erfolg

Mit zwölf wurde er in die Karl-Bonhoeffer-Klinik gebracht, die Berliner auch „Bonnies Ranch“ nennen

VON CAROLIN PIRICH

Ein Strich, kobaltblau. Adolf Beutler setzt ihn ganz unten an, wo ein dünne Leiste das Blatt begrenzt. Gäbe es die Leiste nicht, würde er auf der Holzplatte ansetzen, auf der das Papier liegt, aber es gibt sie, also nimmt er den äußersten Rand. Von dort aus zieht er den Strich nach oben, ganz langsam.

Durchs Atelier zieht Kaffeeduft. Die Künstler sprechen leise, wenn überhaupt jemand spricht, und sie setzen ihre Schritte so vorsichtig, dass es nur raschelt, wenn sie vorbeigehen. Adolf Beutler sitzt am Fenster mit dem Rücken zum Raum. Er dreht sich nicht um. Ab und zu klingt ein gluckerndes Lachen herüber und das Klopfen und Feilen des Bildhauers. Um zwölf wird es still, als alle in die Kantine gehen wie jeden Tag. Nur Adolf Beutler bleibt sitzen, er kommt heute gut voran.

Es gibt kaum ein Werk, das er noch selbst besitzt, außer denen, an denen er noch arbeitet. Er gehört zu den Künstlern, deren Werke Sammler sofort kaufen, sobald sie fertig sind. Aber er produziert deshalb nicht schneller oder mehr, wie es andere Künstler müssen, weil es die Nachfrage so will. Adolf Beutler ist freier. Für ihn ist die Nachfrage nicht wichtig. Er äußert sich nicht zu seinen Bildern, kommentiert nichts und gehört auch keiner Schule an, die etwa einen neuen abstrakten Expressionismus ausruft. Adolf Beutler zeichnet, weil er zeichnet.

Er führt den Stift mit Druck. Die Spitze bricht nicht, aber sie hinterlässt eine feine Rille in der Oberfläche. Man kann sie mit dem Finger fühlen, so fest führt er die Mine über Papier. Dann trifft seine Linie auf eine andere in Ockerbraun, die er vor einiger Zeit gezogen hat, gleitet von ihr ab, beschreibt eine kleine Schleife, biegt nach rechts fast bis zum Rand, endet in einem Knoten.

Wer ihn kennenlernen will, sieht ihm am besten zu, wie er arbeitet, denn Adolf Beutler spricht nicht, nicht heute und auch sonst sagt er nur selten ein Wort. In diesem Porträt wird sich deshalb kein Zitat von ihm finden.

Er ist ein Künstler mit autistischen Zügen, wie Nina Pfannenstiel sagt, die sich als seine Assistentin sieht. Künstler mit autistischen Zügen vergleichen sich nicht mit anderen. Sie interessieren sich nicht für Preise, die es zu gewinnen gibt, nicht für Galeristen, nicht für Politik und nicht für das, was Kunstkritiker Avantgarde nennen. Vor hundert Jahren hätte Adolf Beutler wahrscheinlich genauso gearbeitet wie heute. Kunst von Menschen wie ihm kennt man unter dem Begriff „Outsider Art“. Er beschreibt weniger eine Stilrichtung, sondern mehr die soziale Stellung der Künstler und ihren Standort: außerhalb.

Das Atelier, in dem Adolf Beutler arbeitet, liegt in Berlin-Spandau, wo die Stadt nicht mehr pulsiert, weit weg von den Orten, an denen sonst so viel Kunst so schnell entsteht, im quirligen Mitte, im bunten Kreuzberg oder im Wedding, wo die Mieten wenigstens günstiger sind.

Spandau ist grün, still, geordnet. Jeden Donnerstag wird Adolf Beutler abgeholt und dorthin gebracht, das graumelierte Haar sorgfältig frisiert. Ein gut aussehender, älterer Herr, der die Hand warm zur Begrüßung drückt und der nicht lächeln muss, um Freundlichkeit auszustrahlen.

Adolf Beutler zeichnet, als folge er einem genauen Plan, langsam und gleichmäßig. Links von ihm liegt eine flache Holzkiste mit Buntstiften; Brauntöne, Kobalt- und Industrieblau, Venezianischrot und Zitronengelb, das er in der Zeichnung vor ihm zum ersten Mal einsetzt. Er hat seine Linien und Symbole nicht nur auf Papier, sondern auch auf Holzklötze eingerieben, auf ein kleines, nach innen gewölbtes Stück Plastik, das von einem Kofferradio abgebrochen ist. Auch die Kiste mit den Stiften hat er so bearbeitet. Er erobert mit den Stiften und Farben seine Umgebung. Früher war es die Umgebung, die ihn eroberte.

Die documenta-Halle in Kassel zeigt gerade auch Adolf Beutlers Zeichnungen und Objekte, es ist die größte Ausstellung mit Werken von autistischen Künstlern, die es in Deutschland bisher gegeben hat. „Ich sehe was, was du nicht siehst“ heißt sie. Der Titel passt gut zum Ort. Die documenta-Halle ist bekannt für visionäre Künstler, die alle fünf Jahre von überallher in eine mitteldeutsche, mittelgroße, mittelschöne Stadt reisen, um ihre Werke bei der größten Kunstschau der Welt zu zeigen. Jan Hoet hat sie 1992 geleitet, für diese Ausstellung ist er wieder nach Kassel berufen worden, als „Botschafter“. Er soll zwischen der einen Kunstwelt und der anderen Kunstwelt vermitteln, sagt er, als gäbe es eine klare Grenze zwischen ihnen.

Der Unterschied, den Jan Hoet zwischen einem Künstler ohne Autismus und einem Künstler mit Autismus feststellt, ist der, dass der eine Einflüsse aufnehme und der andere ganz aus sich selbst heraus arbeite.

Bei der Eröffnung bekamen alle Künstler Blumen, damit jeder gleich wusste, wer Künstler ist und wer Besucher. Adolf Beutler hatte selbst einen Strauß dabei, lilafarbene Astern. Nachdem er den Tisch mit seinen Objekten hergerichtet hatte, bis die Installation stimmig war, schritt er durch die Räume und verteilte die Astern an die Besucher. An einem Ort wie der documenta-Halle, an dem ja sonst alles irgendwie Kunst ist, wirkte es, als wollte er damit die Rollen vertauschen. Aber vielleicht war er einfach nur charmant.

Es gibt kaum ein Werk, das er noch selbst besitzt, außer denen, an denen er noch arbeitet

Man kann sich in Adolf Beutlers Zeichnungen und Installationen verlieren. Striche und Schleifen und Kreuze und Kreise, die über Monate zu einem dichten System zusammenwachsen. Wenn man etwas hineinsehen will, kann man eine Landschaft wie aus dem Flugzeug betrachtet erkennen oder Soldatengräber oder Jahresringe wie bei einem frisch gefällten Baum. Nur einmal hat er gesagt, er zeichne Zäune.

Was vorher Adolf Beutlers Leben war, ist schnell erzählt. Das liegt daran, dass er nicht spricht, aber auch die Akte, die es über ihn im Atelier gibt, verrät kaum mehr. Er war eines von vielen Geschwistern, wurde am 23. Januar 1935 in Berlin geboren, und sein Vorname ist ein Zeugnis dieser Zeit. In der Akte steht auch, er habe eine „mittlere geistige Behinderung“. 1947 wurde er deshalb in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik gebracht, die die Berliner auch „Bonnies Ranch“ nennen, da war er zwölf. 42 Jahre später verließ er Bonnies Ranch, kurz vor der Wende. Da war er 54.

Nina Pfannenstiel, seine Assistentin, sagt, Adolf Beutler arbeite sich an seinen Werken ab. Er strukturiere, plane, erobere. Sie ist eine ernste, aufgeschlossene Frau Anfang vierzig mit kurzem braunem Haar und fester, sanfter Stimme. Wäre Pfannenstiel Kunsttherapeutin, hätte sie Adolf Beutler wahrscheinlich einen Pinsel und Aquarellfarben gegeben, als er ins Atelier kam, damit er weicher würde oder was auch immer. Aber das Atelier ist keine Therapiestätte. Es ist ein Arbeitsplatz, an dem vielleicht mehr Kaffee getrunken und zusammengesessen wird als an den anderen Arbeitsplätzen im Backsteinhaus in Spandau, weshalb die anderen auch immer etwas skeptisch sind. Das bisschen Malen, hören die Künstler oft, das kann ich auch.

Er fand einen Arbeitsplatz in der Industriemontage der Mosaik-Werkstätten für behinderte Menschen in Spandau und sortierte Bohrer. Stockwerk für Stockwerk erforschte er das Backsteingebäude, bis er das Atelier im zweiten Obergeschoss entdeckte. Dann begann er zu zeichnen und blieb. Vier Jahre später gewann Adolf Beutler seinen ersten internationalen Kunstpreis, den EUWARD 2000. Seine Assistentin hatte seine Werke eingereicht.

Von seinem Platz aus könnte Adolf Beutler aus dem Fenster sehen. Wie nach den vielen Regentagen endlich Blütenblätter aus den Bäumen aufwirbeln. Wie Autos in der Sonne aufglänzen, wenn sie auf an dem Gebäude vorbeifahren. Wie gegenüber eine Schulklasse über den Sportplatz rennt. Er sieht nicht hinaus. Er trinkt einen Schluck Kaffee, nimmt einen Stift aus einer Holzkiste, sucht auf seinem Blatt Papier die richtige Stelle. Er findet sie und setzt wieder an.

■ „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Bis 20. Juni in der documenta-Halle in Kassel. Der Katalog ist im Kerber-Verlag erschienen