Die Straße, immer die Straße

Edgardo Cozarinsky begleitet einen Stricher durch die Nacht von Buenos Aires: „Der Nachtschwärmer“ driftet dabei vom Kitsch zur Fantasterei und zurück zum Sozialdrama

Der Blaustich des Hafenbeckens, die funkelnden Pop-Oberflächen: Diese Farbspiele erinnern zunächst an Wong Kar Wais faszinierenden Film „Happy Together“, der von zwei Schwulen aus Hongkong in Buenos Aires erzählte. Auch in Edgardo Cozarinskys „Der Nachtschwärmer“ blitzt das nächtliche Buenos Aires als prickelnder MTV-Clip auf – doch bald schon weicht, was Wong Kar Wais Szenen der Liebe und Gewalt wachruft, einer Innensicht auf die Bedingungen eines Lebens auf der Straße der argentinischen Hauptstadt.

Behutsam gleiten wir über ein Autohupen in die Nacht. Kurze, scheinbar zusammenhangslose Szenen folgen. Sie entgrenzen das konventionelle Erzählkino und insistieren auf etwas anderem: funkelnde Nike-Stiefel im Schaufenster, daneben Müll sammelnde Menschen mit riesigen Stofftüten – die Straße wird zum filmischen Topos des prekären Lebens. „Die Straße, immer die Straße“, sagt ein väterlich auftretender Kunde zu Victor, irgendwo am Rand einer Stadtautobahn hinter einem Mercedes. Es ist der Kommissar, der Victor schützt und zugleich benutzt. Dort dann der erste schnelle Sex, der von Kälte und Lust erzählt.

Die ruhige und präzise Kamera zeigt einen Ausschnitt des Strichermilieus – indem sie Victors Wegen folgt, gewährt sie Einblicke in das heutige Buenos Aires, schwankend zwischen realistischen Abbild und illusionistischem Zerrbild. Victor durchwandert genussvoll den Glamour der Stadt und erlebt ihn zugleich in einer Brecht’schen Grundstimmung: So wird aus seinen Wanderungen eine Hommage an das einfache Leben, in dem Nichtorte zu wirklichen Orten der Begegnung werden.

Da huschen Mittellose an Victor vorbei, für die die Nacht ein Versprechen ist, wohl wissend, dass Träume allein auf Zelluloid geschrieben sind. Regisseur Edgardo Cozarinsky zeichnet ein sozialromantisches Bild von Buenos Aires, von Menschen, die trotz Armut eine Würde finden. Das ist mitunter tragisch-schöner Kitsch. Victor ist hingegen der unbekümmerte, leidenschaftliche und verführerische Körper, der seiner Arbeit nachgeht und dem immer ein wenig Zeit für Yogaübungen gegen die Verspannung bleibt. Victors rauschhaftes Driften zwischen Sex und Kokain gleicht einer märchenhaften Bourgeoisieforschung: Während ein paar Botschafter, umringt von einer Strichercrew, über die Hintergründe der ökonomischen Krise Argentiniens sinnieren, zieht Victor im Hinterzimmer mit der Ehegattin einige Lines.

Für die verträumten und teilweise einsamen Wege des „Nachtschwärmers“ bilden unstillbares Begehren, religiöser Kitsch und herrschende politische Korruption die Folie. Edgardo Cozarinsky gehört einer Generation des argentinischen Autorenkinos an, die während der Militärdiktatur ins Exil ging. Spezifisch für dieses Kino ist, dass es den allgegenwärtigen Tangorhythmus in ein soziales und politisches Drama überführt, welches nie allein Lehrstückcharakter hat, sondern zugleich etwas Surreales, Komisch-Absurdes und Tieftrauriges in sich trägt. Auch dem „Nachtschwärmer“ ist dieser komponierte neorealistische Zauber anzusehen, in dem sich die Traumsequenzen kaum von der eigentlichen Filmhandlung unterscheiden lassen. Das vordergründige Drama des Strichers darf sich bei Cozarinsky durch groteske Szenen, die sich in einem mythenbeladenen Raum abspielen, aus seinem Klischeepanzer befreien – in der Nacht von Allerheiligen begegnet Victor zum Beispiel den lebenden Toten aus seiner verdrängten Erinnerung.

Schließlich aber gehen die Reklametafeln aus. Der Tag beginnt, die Spur Victors verliert sich. Er verschwindet, irgendwo an einer Straße, als sei das Leben des Strichers eine offen zu haltende Frage. ALJOSCHA WESKOTT

„Ronda nocturna“ („Der Nachtschwärmer“). Regie: Edgardo Cozarinsky. Mit Gonzalo Heredia, Diego Trerotola u. a. Argentinien/Frankreich 2005, 81 Min.