Rotes Morgengrauen

3.000 Raketen, 8 Tote – das ist in Sderot die Bilanz von fünf Jahren Raketenbeschuss

AUS SDEROT SUSANNE KNAUL

Für die 23-jährige Moran sind die letzten Tage ein einziger Albtraum gewesen, eine Zeitschleife des Horrors. Mehr als hundert Mal hörte sie den Warnruf „Schachar adom!“, rotes Morgengrauen. Das Codewort, das die Bürger von Sderot vor einem unmittelbar bevorstehenden Kassam-Raketen-Angriff warnt, dröhnt dann aus den überall postierten Lautsprechern durch die 20.000-Einwohner-Stadt. Nur wenige Sekunden haben Moran und die anderen noch, um sich in Sicherheit zu bringen. Dann hören sie das schrille Pfeifen, dann den Knall.

Länger als anderthalb Jahre hatte sich die palästinensische Hamas weitgehend an die Waffenruhe gehalten. Seit dem Tod einer siebenköpfigen Familie am letzten Wochenende, die am Strand von Gaza starb, hat die islamistische Bewegung den Beschuss wieder aufgenommen. Die Palästinenser machen Israel für den Tod am Strand verantwortlich und für diese erneute Eskalation, die in Moran grauenhafte Erinnerungen weckt.

Vor zwei Jahren, sagt sie, „habe ich aufgehört zu leben“. Sie weint, wenn sie von diesem 28. Juni erzählt. Wenige Monate zuvor hatte die damals 21-Jährige ihren Militärdienst beendet, jetzt verdiente sich die Pädagogikstudentin als Wachposten vor einem Kindergarten ihren Lebensunterhalt. „Ich hatte gerade die Kinder begrüßt, als wir von einer dicken, dunklen Wolke erfasst wurden“, erinnert sie sich. Eine Druckwelle presste alle auf den Boden, dann spürte sie einen Schlag im Rücken.

„Als ich den Kopf wieder hob, sah ich, was passiert war“, schluchzt sie, die schulterlangen blonden Haare fallen über ihr Gesicht. Ein vierjähriger Junge und sein Großvater waren von einer Kassam-Rakete getroffen worden. Beide waren sofort tot.

3.000 Raketen, 8 Tote – das ist in Sderot die Bilanz von 5 Jahren Raketenbeschuss. Statistisch gesehen ist die Chance, von einer Kassam-Rakete getroffen zu werden, selbst hier noch deutlich niedriger, als bei einem Autounfall zu sterben. Doch jeder neue Raketeneinschlag zerrt an den Nerven der Kleinstädter, jeder Dritte klagt über posttraumatische Zustände. 2.000 akute Fälle werden derzeit im städtischen „Zentrum für die Gesundheit der Seele“ betreut. „Schlafstörungen, Herzrasen und Panikattacken sind die häufigsten Beschwerden“, berichtet Psychiaterin Dr. Adriana Katz. Sie leitet das Zentrum. Mit autogenem Training, Therapiegesprächen, auch Medikamenten versucht sie, ihren Patienten zu helfen. Die ständige Bedrohungssituation bezeichnet Katz als „Psychoterror“, ähnlich der chinesischen Wasserfolter, bei der dem Opfer unaufhörlich Tropfen auf den Kopf fallen.

Einmal pro Woche kommt Moran zu ihr, stets begleitet von ihrer Mutter. Sie soll hier über ihre Angst reden, sie wegreden, aber trotz der professionellen Hilfe „geht ohne Medikamente gar nichts“, sagt sie. Moran hat ihr Studium abgebrochen, die Arbeit aufgegeben. „Ich muss erst mal wieder gesund werden.“ Ihren Berufswunsch, Kindergartenleiterin, hat sie für immer an den Nagel gehängt. Der Gedanke, für Kinder die Verantwortung tragen zu müssen, schreckt sie bis heute.

Manchmal gehe es schon besser, sagt sie. Aber in diesen Tagen „bin ich wieder ganz unten“. Wenn die Stadtverwaltung nur endlich mit „diesem unsinnigen ‚Schachar adom!‘ aufhören würde!“ Die Lautsprecherdurchsagen vergrößerten nur den Schrecken, und die paar Sekunden bis zum Einschlag seien viel zu kurz, um Unterschlupf zu finden.

Auch Psychiaterin Katz hat die Stadtverwaltung schon gebeten, die „psychologisch kontraproduktiven Vorwarnungen“ einzustellen. Vergeblich. Dabei ist sich Bürgermeister Eli Mujal der Zwecklosigkeit durchaus bewusst. Die Leute in Kirjat Schmona, ganz im Norden Israels, hätten es da besser als seine Leute, sagt er. Die würden von der Hisbollah mit Katjuscha-Raketen beschossen, „und die brauchen zwei bis drei Minuten, um ihr Ziel zu erreichen, Kassams nur 15 Sekunden“. Der Bürgermeister ist verbittert über das eigene Unvermögen, seine Stadt zu schützen, auch über die „Tatenlosigkeit der Regierung“.

Woher er denn wissen solle, wie man der Gefahr ein Ende bereiten könnte, antwortet er ratlos auf die Frage eines Korrespondenten. Das staatliche Presseamt hatte eigens einen Bus mit Medienvertretern nach Sderot gebracht; sie sollen berichten, wie israelische Zivilisten von der Hamas gefährdet werden. „Ich bin schließlich gewählt worden, um Müllabfuhr und Straßenreinigung zu organisieren“, sagt Mujal. Fürs Erste hat er die Schulen und Kindergärten geschlossen und organisiert, dass während der zweimonatigen Sommerferien die 5.000 Schulkinder von Sderot in Sommerlager außerhalb der Gefahrenzone reisen können. Er ist ratlos, weiß nicht, warum die Palästinenser seine Stadt angreifen. „Israel ist doch im August aus dem Gaza-Streifen abgezogen“, erinnert er. Aber paradoxerweise sei der Beschuss seit der Evakuierung der jüdischen Siedlungen und dem Rückzug der Armee aus dem besetzten Gebiet „noch schlimmer geworden“. Wenn es nicht anders gehe, müsse eben Beit Hanun, die nächstgelegene Stadt im Gaza-Streifen, „ausradiert werden“, lässt sich der Bürgermeister schließlich doch noch zu einem radikalen Lösungsvorschlag hinreißen. Die Pressevertreter schreiben eifrig mit.

Wer nicht dringend etwas zu erledigen hat, geht in diesen Tagen nicht auf die Straße. Dabei sind die Leute auch zu Hause nicht sicherer. Der Mitte-50-jährige Zeitungshändler Sasson Sara lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in einem Altbau mit dünner Betondecke. „Wie durch Papier“ würden dort die Kassam-Raketen durchgehen, sollte das Haus getroffen werden. Seinen Kindern lügt er vor, dass sie zu Hause sicher seien. „Mein Sohn hat die ganze letzte Nacht vor Angst gezittert“, rechtfertigt er seine Notlüge.

„Es ist wie bei der Entenjagd“, sagt Sasson und sortiert die nicht mehr aktuellen Zeitschriften aus. „Wir ziehen die Köpfe ein, und wenn es vorbei ist, gucken wir, wen es diesmal getroffen hat. Dann geht jeder wieder seiner Wege. Bis zum nächsten Mal.“ Aus seiner Heimatstadt wegziehen will er trotzdem nicht. Lieber ginge er in eine Zeltstadt, die die Kassams nicht erreichen könnten. So lange, bis die Regierung eine Lösung gefunden hat. „Militärisch“, fügt er hinzu, „es geht nur militärisch.“

Nicht weit entfernt hat sich eine Gruppe Hungerstreikender versammelt. Gleich neben dem durchaus bescheidenen Haus des neuen Verteidigungsministers Amir Peretz, der aus Sderot stammt. „Wir wollen nur in Ruhe leben“ steht auf ihren Plakaten. Mit dieser Forderung kann sich wohl jeder Bürger der Stadt identifizieren. Erst in der Frage, wie das erreicht werden soll, sind die Meinungen geteilt. Während die eine Gruppe auf harte Militäraktionen setzt, hat die andere „Evakuierung – Wiedergutmachung“ auf ihre Plakate geschrieben. Einig sind sich alle Hungerstreikenden in ihrer Ablehnung des jüdischen Rechtsextremisten Mosche Feiglin. „Evakuierung – Wiedergutmachung – der Araber“ steht auf seinem Plakat, das er nach Protesten der Hungerstreikenden umgehend wieder einpacken muss.

Ideologische Gründe, die die jüdischen Siedler in den Gaza-Streifen getrieben hatten, spielen in Sderot keine Rolle. Die meisten würden lieber heute als morgen die Stadt verlassen, um ins sichere Landesinnere zu ziehen. Das Leben dort wäre auch für Moran leichter. „Wir haben unser Haus zum Verkauf angeboten“, erzählt ihre Mutter verzweifelt. Aber selbst bei einem „lächerlich niedrigen Preis ist derzeit kein Käufer zu finden“. Wer will es den Leuten verdenken.