Ein Direktor mit Wagemut

Ausgerechnet beim Defilee „20 Jahre Martin Margiela“ musste Chris Dercon, der Leiter des Münchner Hauses der Kunst, weinen, wie er in einen Interview mit der taz gestand. Also nicht bei einem Kunst-, sondern einem Modeereignis. Das sagt viel aus über den 1958 in Lier, Belgien, geborenen Kunsthistoriker, der im Frühjahr 2011 die Leitung der Tate Modern in London übernehmen wird. Die in einem von den Architekten Herzog & de Meuron umgebauten ehemaligen Kraftwerk beheimatete Institution ist eines der bekanntesten Museen für moderne und zeitgenössische Kunst und zieht jedes Jahr Millionen von Besuchern an.

Mit Herzog & de Meuron verbindet Dercon ein Coup der besonderen Art: Während der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 zierte das – wegen des Fifa-Werbeverbots im Münchner Stadium abmontierte – „Allianz Arena“-Logo das Haus der Kunst in München. Es sollte auf die kommende Ausstellung der Architekten im Haus am Englischen Garten hinweisen. Herzog & de Meuron hatten 2002 den neuen Münchner Fußballdom entworfen. Dercon wollte die Idee kritisch verstanden sehen: Gerade an dem Haus, das einmal die Kunst der Nationalsozialisten beherbergte, sei die Assoziation mit Propaganda doch bestens aufgehoben. Tatsächlich sorgte er aber 2004/2005 auch dafür, dass das historische Archiv des Hauses erschlossen wurde, und ließ alle Nachkriegseinbauten entfernen, die bis dahin der Verschleierung der programmatischen nationalsozialistischen Architektur dienten.

Solcher Wagemut, der auch seinen Ansatz kennzeichnete, die Disziplinen zu vermischen und Kunst, Architektur, Design, Mode, Fotografie und Film gleichberechtigt zu präsentieren, prädestiniert den Belgier für den Direktorenposten. Auch dort könnte es spannend werden, bleibt Dercon seiner Linie treu, das Gestern im Heute wiederzuentdecken und umgekehrt, was in München vor allem ein junges Publikum honorierte. Für solche Ex- und Rekursionen entschleunigte er in München den Reigen der Ausstellungen und plädierte für eine neue Kultur der „präzisen Langsamkeit und Komplexität“. Den Mann könnte man überall gut gebrauchen.

BRIGITTE WERNEBURG