Wenn Herzen fliegen wollen

Heimspiel für ein Männchen mit Gitarre: Der brasilianische Singer-Songwriter und Superstar Chico Buarque spielte bei der „Copa da Cultura“ im Haus der Kulturen der Welt und löste sogar mit seinen melancholischsten Liedern noch Jubelstürme aus

VON ANDREAS HARTMANN

Chico Buarque hatte nie Dreadlocks, hat nie Ufos gesehen und ist auch kein Politiker wie Gilberto Gil. Er gehörte in den Sechzigern auch nicht der subversiven Tropcalia-Bewegung um Gil und Caetano Veloso an, der das Haus der Kulturen der Welt (HKW) gerade eine Ausstellung widmet. Seine Musik war nicht einmal zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur besonders auffällig oder exaltiert – als Gil versuchte, Jimi Hendrix aufzusaugen, und Veloso mit der Intellektualisierung seiner Musik den Polizeistaat in Verlegenheit brachte.

Buarque war schon immer einfach der schüchterne Poet mit den blauen Augen, der ergreifend singen und Gitarre spielen konnte. Ein Klassiker von Anfang an. Die Tropicalistas warfen ihm seinerzeit denn auch vor, Protest nicht über die ungewöhnliche musikalische Form auszudrücken. Buarque galt ihnen als opportunistisch und konservativ. Er wurde nicht wie Veloso und Gil in einer Nacht- und Nebelaktion von der Militärpolizei verhaftet und ins Exil geschickt, sondern ging Ende der Sechziger freiwillig nach Italien. Zur Ikone wurde Buarque in seiner Heimat also weniger aufgrund seiner bewegenden Lebensgeschichte, sondern schlicht wegen seiner Musik.

Diese allein zählte auch in der Nacht von Freitag auf Samstag, als Chico Buarque im Zentrum der derzeit grassierenden Brasilien-Begeisterung auftrat: Der Brasilianer, der daheim ein Superstar von der Größe eines Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen ist, wurde schon vorab als Höhepunkt der Konzertreihe „Copa da Cultura Brasil“ im HKW gehandelt. Und auch wenn in Brasilien jedes seiner Lieder zur Nationalkultur gehört – in Deutschland ist er immer noch eher ein Fall für die Geschmäckler, bekannt vor allem beim immer noch viel zu kleinen Kreis der Liebhaber brasilianischen Pops. Ohne WM und die grün-gelbe Euphoriewelle, die Berlin erfasst hat, hätte Chico Buarque, der bereits über sechzig Jahre alt ist, wohl kaum seinen Weg nach Berlin gefunden.

Seit sechs Jahren ist er überhaupt nicht mehr live aufgetreten, auch in Brasilien nicht. Er schreibt jetzt Bücher, lebt teilweise in Paris und spielt ansonsten – Achtung, Klischeefalle! – leidenschaftlich gerne Fußball an den Wochenenden. Die Aussicht auf ein paar WM-Tickets, so ein Gerücht, habe den Fußballfan letztlich dazu bewegen können, just in Berlin mal wieder ein Konzert zu geben. Wegen diesem seien die Fans sogar über den Ozean angereist, hieß es im Vorfeld. Im ausverkauften Haus der Kulturen der Welt wurde jedenfalls tatsächlich an jeder Ecke brasilianisches Portugiesisch gesprochen. Für Chico Buarque wurde der Auftritt förmlich zum Heimspiel.

Und natürlich hat er es gewonnen. Egal was Buarque tat, egal, ob er nur alleine auf seinem Hocker mit der Gitarre in der Hand eine Nummer anstimmte oder mit seiner Band eine Samba – das Publikum war schon seit den allerersten Akkorden nicht mehr zu halten. Die Herzen flogen zu diesem dünnen kleinen Männchen, das immer noch unverschämt gut und drahtig aussieht und dessen zurückhaltende Art geradezu rührend wirkt. Man kann sich kaum vorstellen, dass ein Endspieltor von Ronaldinho hemmungsloseren, erstaunlicheren Jubel auslösen könnte.

Dabei packte Chico Buarque noch nicht mal offensichtliche Hits aus. Es war ihm nicht daran gelegen, ein Feuerwerk zu zünden: Ruhig und konzentriert spielte er mit seiner Band das Programm runter, geschmackvoll und stilsicher. Piano, Percussion, Schlagzeug, Kontrabass und ein Bläser fügten sich zum klassischen Brasilpop-Teppich, den Buarque mit Gitarre und seiner sanften Stimme verzierte. Diese Mischung aus Samba, Bossa, simplem Pop und musikalischer Virtuosität, inszeniert Buarque gekonnt, aber eigentlich nicht spektakulär. Doch das Publikum wollte ganz einfach feiern; selbst das fröhlichste Stück des Abends, eine Samba am Konzertende, war noch von dieser vom portugiesischen Fado sich ableitenden Grundmelancholie der Musik Buarques getönt – und doch hielt es niemanden auf den Plätzen.

Das Konzert schien WM-Begeisterung und laue Sommerabendwärme in eine überwältigende Euphoriewelle zu kanalisieren: Dabei entspricht Chico Buarque so wenig all diesen schlimmen Brasilien-Klischees, dieser Mär von Samba-seliger Dauerzufriedenheit und händeklatschender Lebensfreude. Und dennoch vermochte er es, Fußballfeststimmung in die grundsätzlich etwas steife Atmosphäre des HKW-Konzertsaals zu zaubern. Am Ende gab es Standing Ovations – eine Fankurve ist nichts dagegen. Buarque, der dauernd verschmitzt lächelte, wirkte glücklich wie ein kleiner Junge, dem gerade ein Geschenk überreicht worden war.