Heimat ist keine Hölle mehr

Gerd Leipold lebte als Chef von Greenpeace in der ganzen Welt. Jetzt ist er 62 und in sein oberschwäbisches Heimatdorf Rot an der Rot zurückgekehrt, aus dem er einst floh, weil es ein „katholisches Nordkorea“ war

■ Der Mann: Leipold, Jahrgang 1951, Umweltberater. Von 2001 bis 2009 Vorsitzender von Greenpeace International.

■ Das Dorf: Rot an der Rot. Landkreis Biberach. 4.400 Einwohner. Event: Workshop „Socken stricken“, 11. Dezember, 19 Uhr

■ Das Buch: „Zeit, sich einzumischen: Vom Taksimplatz nach Island“ (mit Walter Sittler; Sagas 2013)

AUS ROT UND BERLIN PETER UNFRIED

Mit 18 Jahren flieht Gerd Leipold aus der Enge des oberschwäbischen Kaffs, in dem er geboren und aufgewachsen ist. In der autoritären Atmosphäre patriarchaler und kirchlicher Unterdrückung hält er es schon mit 13 oder 14 kaum noch aus. „Katholisches Nordkorea“, sagt er heute. Die Welt besteht nur aus Familie und Dorf. Die Mutter führt die Bücher der Dorfmolkerei. Der Vater ist Dorflehrer. Gerd geht sogar bei ihm in die Klasse. 1970 verschwindet er nach München, das gerade von der Studierendenrevolte dynamisiert worden ist. Wird Doktor der Physik und Doktor der Meteorologie. Erforscht den Klimawandel. Lebt in Kalifornien am Strand. Dann in Hamburg, London. Und als Chef von Greenpeace International viele Jahre in Amsterdam. Jetzt ist er 62 und in sein Dorf zurückgekehrt.

Warum kehrt man in die Hölle zurück?

Es ist 10.30 Uhr am Morgen, als Leipold eine Mütze aufsetzt und aus seinem Elternhaus tritt. In Rot liegt Schnee. Ende November hatte es schon minus 8 Grad.

Das Klima ist rau wie der Dialekt, der ins Allgäuische tendiert. Nix schwäbischer Singsang. Leipold hat dichtes, graues Haar und buschige Augenbrauen. Wenn man weiß, dass er Oberschwabe ist, sieht er auch aus wie ein Oberschwabe. Er sagt selbstverständlich „Tunell“, nicht „Tunnel“. „Warum ich zurück bin?“, fragt er, als fange er selbst erst an, sich Gedanken zu machen. Dann sagt er: „Wegen Heimat.“

Die Stasi holt ihn ab

1983 landet Leipold mit einem Greenpeace-Ballon in Berlin, Hauptstadt der DDR, um gegen die Atomtests aller vier Weltkriegssiegermächte zu protestieren. NVA-Soldaten zerren ihn aus der Gondel, die Stasi holt ihn ab, großer Coup. Leipold ist links, will politisch wirken, aber die marxistischen K-Gruppen der 70er sind ihm von Anfang an zu dogmatisch-sektiererisch. Er will seinen eigenen Kopf nicht ausschalten. Am Ende ist er fast 30 Jahre bei Greenpeace, die letzten neun Jahre bis Ende 2009 als Chef des internationalen NGO-Konzerns. Sein Job: Ideen und Konflikte durch massenmedial verbreitete Zuspitzung vorantreiben, damit die echte Welt sich ändert. 2006 konzentriert er sich auf den Elektronikkonzern Apple, um Aufmerksamkeit zu erregen. Und darf sich im Hauptquartier von Apple im Silicon Valley von Steve Jobs persönlich zusammenschreien lassen.

Nun also wieder sein Dorf, durch das wir an diesem Morgen spazieren. Rot an der Rot. Ein oberschwäbisches Disneyland mit diversen herausgeputzten historischen Bauten. Zwischen Biberach und Memmingen gelegen. Oder vielleicht sollte man sicherheitshalber sagen: zwischen Stuttgart und München. 4.400 Einwohner, zwei kulturelle Höhepunkte im Jahr: die Fasnet und das Dorffest im August.

Der Ortskern ist in Klostermauern eingeschlossen. Die riesige Klosterkirche dominiert den Ort immer noch, wenn sie auch das Leben der um sie herum lebenden Menschen nicht mehr so stark unterdrückt wie viele Jahrhunderte lang. Aber morgens um halb sechs reißt sie die Leute immer noch mit dem Angelus-Läuten aus dem Schlaf. Leipold sagt, er fühle sich in dem Läuten geborgen. Bitte?

Es sei so.

Leipold betritt das frühklassizistische Kirchenschiff, setzt seine Mütze ab und zeigt hinauf, wo eine gewaltige Orgel thront. Die hat er als Zwölfjähriger gespielt. Er vertrat den Vater in der Frühmesse und wenn dieser den Chor dirigierte. Er traf die Noten, doch dazu sang das Volk, wie es wollte. Sein armer Vater.

Wenn man so durch das Dorf geht, sind hier nicht überall Gründe, warum man unbedingt wegmusste?

Er lächelt milde. Gerade hat er mit dem Schauspieler Walter Sittler ein Buch herausgebracht: „Zeit, sich einzumischen“. Es ist eine gemeinsame Reise zu Orten, an denen die europäische Zivilgesellschaft in jüngster Zeit einen Konflikt oder ein Problem kenntlich gemacht hat. Thema: Wie können und wo müssen Bürger sich engagieren? Leipold beschäftigt vor allem auch eine zentrale Zukunftsfrage: Wie schafft man etwas, was es für ein gutes Leben zwingend braucht, was aber weder durch staatliche Leistungen noch durch Marktwirtschaft organisierbar ist: menschliche Nähe und soziale Kontakte im Alter?

Er hat eine Antwort: Dorfstrukturen.

Er lebt wieder in seinem Elternhaus. Allein. 50er Jahre Architektur, kleine, niedrige Räume. Garten, Garage. Er dachte an eine Wohnung in Berlin oder London, aber er spürte: Mit dem Verkauf des Hauses hätte er die Heimat aufgegeben. Was hätte er in Rot noch gesollt? Man kommt da auch nicht vorbei. Es liegt auf dem Weg nach Nirgendwo.

Aber von Hölle kann keine Rede sein. Was früher so beengend gewesen sei, die Normierung, die Kontrolle, empfinde er nicht mehr so. „Die Strenge ist weg, ohne dass die Wärme verloren gegangen wäre“, sagt er. Diese Wärme hat er früher nicht geschätzt, weil er alles als einengend empfand. In den letzten Jahrzehnten habe er in den Metropolen vorwiegend funktionale soziale Beziehungen gepflegt. „Jetzt erfahre ich, was soziale Beziehungen wirklich sind.“ Community heißt das jetzt. Deren Bedeutung geht für ihn weit über das Dorf hinaus. „Die Frage, wie wir miteinander umgehen, ist auch die ökologische Frage“, sagt er. Die Antwort entscheidet darüber, wer seine Heimat verliert, welche Landstriche und Städte untergehen, wer mit wem Krieg führen wird.

An einem Freitagabend stellen Sittler und Leipold in der Akademie der Künste in Berlin das gemeinsame Buch vor. Der Saal ist abgedunkelt, in den Fenstern leuchtet das Brandenburger Tor. Sittler groß, Leipold klein. Sittler in gut sitzendem Anzug, Leipold mit faltiger Cordhose, Sittler ein Beau, Leipold kein Beau. Danach kluges Gespräch mit dem Hausherrn Klaus Staeck und Gesine Schwan. Es geht um die ganz großen Zukunftsthemen. Von der SPD jetzt mal abgesehen.

Leipold erklärt, wie er sich als Aktivist im 21. Jahrhundert versteht. Wie das damit zusammenpasst, dass er nun den Systemgastronomiekonzern McDonald’s Deutschland in Nachhaltigkeitsfragen berät. McDonald’s! Ein Gigant mit 33.000 Läden in über 100 Ländern und dem Ziel, den Industriefleischkonsum mit all seinen Folgen möglichst auszuweiten. „Man darf die Wirtschaft nicht als ansteckende Krankheit betrachten“, sagt er. Die großen Veränderungen müssten die großen Konzerne betreffen. Es war schon als Greenpeace-Chef seine Strategie, mit den angegriffenen Leuten ins Gespräch zu kommen, deshalb ging er auch zu Steve Jobs.

Radikalität definiert sich für ihn heute als Produkt von Tiefe und Breite. „Es ist einfach, große, radikale Ideen zu haben. Es ist schwer, populär zu sein. Aber wirklich schwer ist die Verknüpfung von großer Idee und Popularität.“ Die Kritik an der Politik des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, dass sie nicht grün oder radikal genug sei, teilt er nicht. „Das ist eine naive Interpretation von politischen Veränderungsprozessen“, sagt er. Eine Partei, die von 24,2 Prozent der Bürger gewählt werde, könne nicht radikal sein.

Radikal zu sein sei die Rolle der außerparlamentarischen Organisationen und der Intellektuellen. „Aber Macht und Einfluss zu gewinnen ist das Ziel politischer Parteien.“ Er glaubt, Greenpeace und andere NGOs seien in der Vergangenheit auch auf neoliberale Propaganda hereingefallen, wenn sie Staaten und Institutionen verdammt und gleichzeitig an sie appelliert hätten.

Seine Begeisterung für sein Dorf sieht er nicht als auf das Alter zurückzuführende Idealisierung. Was er allerdings schon merkt: dass seine Vergangenheit wichtiger wird. Nichts sei einzigartig in Rot, schreibt er in seinem Buch. Außer einem: „Die Kindheit scheint herein.“ Aber er befindet sich nicht mehr in einer eigenen und kleinen Welt, sondern ist Teil der großen und weiten. Das Internet funktioniert. In drei Stunden ist er – dank Regionalflughafen Memmingen – bei Tochter und Sohn in London. Das oberschwäbische Dorf ist nicht mehr das Dorf, das er verlässt, als der furchtbare Jurist Filbinger Ministerpräsident ist und der Vater nach seinem Entnazifizierungsverfahren nicht mehr über Politik spricht, schon gar nicht über seine politische Vergangenheit.

Er wäscht mit Solarstrom

Es stimme ihn optimistisch, dass man an konservativen Werten festhalten und sich trotzdem ändern könne, sagt Leipold beim Mittagessen in der Alten Klostermühle. Na ja, 16,9 Prozent wählten bei der letzten Landtagswahl Kretschmann, 60,9 Prozent die heruntergekommene CDU.

Aber unverheiratet Zusammenlebende seien jetzt normal, Bio gehöre dazu, sogar Vegetarier würden toleriert, sagt Leipold. Er hat die Leber bestellt. Und das zukunftsorientierte Einspeisegesetz für Erneuerbare Energien habe voll reingehauen, weil es als kulturelle regionale Tradition verstanden werde: sorgsam und sparsam mit seinem Zeug umzugehen. Seine Haushälterin lässt die Waschmaschine zur Mittagszeit mit eigenem Solarstrom laufen. Wäre ja blöd sonst.

Es muss sich einiges verändert haben, sonst könnte er bei aller Altersmilde nicht zurückgehen. Und es modernisiert sich weiter, wenn Leute wie der Ex-Greenpeace-Chef zurückkommen, die hier nicht vorgesehen sind.

Bevor es nun allzu rührselig wird und Millionen schwäbischer Provinzflüchtlinge der 70er und 80er ihre Heimatdörfer überrennen, muss man darauf hinweisen, dass Leipold nicht nur „dr Jonge vom Lehrer“ ist, Exorganist und Mitglied des Fußballteams. Er hat auch – nach der Scheidung – die Sommer regelmäßig mit seinen beiden Kindern bei deren Großeltern im Dorf verbracht und die Kontakte gepflegt. Das dürfte der Grund sein, warum sie ihn so schnell aufgenommen haben, und das weiß er auch. „Ich könnte mir nicht vorstellen, in einem anderen Dorf zu leben“, sagt er.

Sterben kann er sich in Rot auch vorstellen. „Als Leichenschmaus müsste es dann nackte Bratwürste mit Kartoffelsalat und grünem Salat geben, so wie es in meiner Kindheit bei jeder Leich war.“

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass in den Urnenstelen des Roter Friedhofs Blumenschmuck allerstrengstens verboten ist.