Bürger der „Hauptstadt des Terrors“

AUS NABLUS MAX HÄGLER

Deutsche? Good! Very good! Michael Ballack! Good! Karim, der Schuhverkäufer, grinst. Natürlich ist auch hierher ins Stadtzentrum von Nablus die Kunde von Jens Lehmann gedrungen. Very good! König Fußball überwindet Checkpoints und regiert die Welt, auch im Westjordanland. Zwar reichen weder die Englischkenntnisse noch die internationale Zeichensprache, um einen Fußball aufzutreiben, auf dass man ein wenig kicken könnte, drei Deutsche gegen drei Palästinenser. Aber egal, gerade bringt Karim arabischen Kaffee in Gläsern, den er aus irgendeinem Hauseingang herbeigezaubert hat.

Ein solcher Empfang war nicht zu erwarten in der „Hauptstadt des Terrors“. Auf Panzer, Soldaten und zerstörte Häuser war man gefasst, aber Nablus ist eben auch eine Universitätsstadt, wo – je nach Zählweise – 100.000, 200.000 oder 300.000 Menschen leben. Die weißen Häuser ziehen sich die Talsohle entlang die kargen Berge hinauf. Kleine Häuser, auch Mietsblöcke, mit zwölf Stockwerken, samt Aufzug. Aus den Hähnen kommt warmes Wasser und auf den intakten Straßen fahren gelbe Taxen und schwarze Jeeps. Dennoch, Nablus ist seit der ersten Intifada, spätestens seit der israelischen Militäroffensive im Frühjahr 2002 ein riesiges Gefängnis. Seit vier Jahren schon kontrollieren die israelischen Besatzer sämtliche Zugänge zur Stadt.

Die blockierte Stadt

Karim, der Schuhverkäufer, hat Zeit, uns durch seine Stadt zu führen. Niemand hat hier Geld für Schuhe, denn seit Monaten gilt die internationale Finanzblockade. Er geht mit uns schmale Treppen hinauf, durch Gassen und Unterführungen, hinein in verwinkelte türkische Bäder mit dampfenden Becken. „Old city“, sagt Karim. „Good?“ Nablus wirkt etwas lädiert, der Putz bröckelt, aber im Vergleich zum heruntergekommenen Ramallah könnte die Stadt als schön durchgehen – wären wir nicht im Westjordanland.

Denn in Nablus heißt Tourismus auch Terror-Sightseeing. Karim bringt uns zu einem kleinen Platz, wo Autos parken. An den Mauern hängen die üblichen Plakate mit Porträts der so genannten Märtyrer, die Kalaschnikow in der erhobenen Faust. In die Häuserfront ist ein Loch gerissen, an der Wand gegenüber eine Gedenktafel. Fünf Namen stehen darauf und in Englisch: „We never forget, we never forgive“. Bereitwillig erklären die Anwohner: Fünf Tote hat es hier im April 2002 gegeben, erschossen von den Israelis. Wer hartnäckig weiterfragt, bekommt zumindest eine halbe Antwort auf das Warum: Ja, es waren Kämpfer, und ja, sie hatten Waffen in ihrem Haus. Ob Hamas, Fatah, Islamischer Dschihad? Schulterzucken. Als wir gehen, folgt uns ein Junge. Immer wieder streckt er fünf Finger der Linken in die Höhe und fährt sich dann mit der Rechten die Kehle entlang.

Karim führt uns in eine Bäckerei, die sich tief in ein altes Haus duckt. Der Meister strahlt, serviert süßen Tee, Eierkuchen und kaltes Wasser. Um die 40 ist er, so genau kann man das im Dunkel nicht erkennen, das nur von den Flammen seines Ofens und einer schwachen Neonröhre durchbrochen wird. Von gegenüber kommt ein Schreiner herbei und lässt fragen, ob wir gerne etwas über den Islam hören würden – belehren wolle er nicht, aber erzählen. Ein wenig mitleidig zwinkert uns der Bäcker zu und gießt süßen Tee nach. Eine Stunde und die drei Beweise für die Wahrhaftigkeit des Korans später fragen wir, wie wir Dank sagen können. „No money, please“, heißt es abwehrend. „You are friends!“ Am Wandbord baumelt neben zwei Fotos eine Handgranate.

Später, in der angenehm warmen Nacht, heißt es wieder: Bitte zahlt nicht! Eigentlich wollen wir ein türkisches Bad besuchen, aber man rät uns ab – nach Einbruch der Dunkelheit sei die Altstadt gefährlich, immer wieder würden israelische Sonderheiten die Gegend durchkämmen. Und so sitzen wir mit Freunden von Karim – fünf Informatikstudenten Anfang zwanzig – beim Tee auf der Dachterrasse des Regent Hotels. Friedlich liegt uns Nablus zu Füßen, ein kühles Bier wäre jetzt schön. „Nein!“, sagt Sifuam und schaut entsetzt. „Zu Hause kannst du Alkohol trinken, aber doch nicht hier in der Öffentlichkeit.“ Und die Frauen, fragen wir, wo sind die um diese Zeit? Es ist Samstag und im 40 Kilometer entfernten Ramallah, wo wir herkommen, wissen wir von zwei guten Partys. Aber nicht im eingekesselten Nablus, wo der Islam samt seinen Moralvorstellungen nicht nur den Alltag, sondern auch das Nachtleben beherrscht. „Die Frauen sind zu Hause“, sagt Sifuam. Hierher kommen dürften sie zwar, aber inmitten so vieler Männer, „das wäre nicht so gut.“

Sifuam, 23 Jahre alt, ist kein besonders gläubiger Muslim, das sagt er selbst von sich. Als wir ihn nach seiner Idee vom Zusammenleben der Religionen fragen, erzählt er von seinem Studienbuch. „Darin habe ich notiert, dass es ganz egal ist, ob man Christ ist oder Muslim oder Jude. Alle Menschen sind gleich. Ich habe auch reingeschrieben, dass alle Frauen Nutten sind.“ Sufiam grinst wie ein Kind, das nicht sicher ist, ob richtig ist, was es sagt.

Früher, das erzählen in Israel die Leute, soll Nablus eine aufgeklärte, lebendige Stadt gewesen sein. Früher, das war vor der ersten Intifada Anfang der 80er-Jahre. Seitdem sind sie aber nicht mehr in Nablus gewesen. Denn seitdem bestimmt der Nahost-Konflikt das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern, seitdem klammern sich Menschen wie Sifuam an das, was Bestand hat: Tradition und Religion.

Als einer von etwa 10.000 Studenten gehört Sifuam zur Bildungselite der Stadt, sein Englisch ist nicht schlecht, der Informatiker schwärmt von den Deutschen Industrie-Normen, über die er erstaunlich gut Bescheid weiß. Aber er ist eben gefangen in diesem Tal, an diesem Ort, wo so wenig Austausch stattfindet, dass drei unauffällig gekleidete Deutsche eine echte Attraktion sind. Gerne würde Sifuam mal nach Deutschland kommen, zum Studium. Aber das ist ein verdammt weiter Weg. Bis heute hat er nicht mal das Westjordanland verlassen, und selbst in Ramallah war er erst zweimal.

Amjad Rfaie, der Chef des Flüchtlingslagers Askar, bewirtet die deutschen Besucher mit derselben Gastfreundschaft, wie wir sie oben in der Altstadt erfahren haben. Kaffee, Tee, Brot und Käse lässt er holen, nachdem er uns durch den neuen Lagerteil geführt hat, in dem 6.000 Menschen wohnen. Auch Askar, eine brennende Müllkippe von Nablus entfernt, findet sich immer wieder in den Nachrichten. Im letzten Frühherbst erschoss hier eine Militärpatrouille einen 13-Jährigen, einige Monate zuvor zerstörte die israelische Armee das Haus eines 16-jährigen Attentäters. Er hatte in Tel Aviv drei Menschen umgebracht. Auch in Askar gedenkt man solcher Märtyrer, Rfaie führt uns zu den Tafeln, die in einem abgeschlossenen Hinterhof in den Boden eingelassen sind.

Schüsse in der Nacht

Fatah-Mann ist er, Angestellter des Außenministeriums. Früher sei er „Fighter“ gewesen, sagt er. Milde lächelt er, als wir ihn auf die Schüsse ansprechen, die in der Nacht zuvor durch die Dunkelheit peitschten. „Das waren keine M16, also keine Israelis“, sagt er. „Das waren Kalaschnikows, wahrscheinlich Streitigkeiten oder Freudenschüsse bei einer Hochzeit.“ Vielleicht waren es auch Todesschüsse. Drei Tage nach dem Gespräch jedenfalls haben Fatah-Terroristen eine 27-jährige Mutter und einen 24 Jahre alten Mann erschossen. Sie wurden verdächtigt, Geheimnisse an die Israelis verraten zu haben.

Mit rechtsstaatlichen Mitteln lassen sich solche Verbrechen in Nablus nicht aufklären. Die Stadt hat keine Polizei und wo keine Staatsgewalt ist, funktionieren auch Gerichte nicht mehr. In Nablus werden Konflikte mit der Waffe geregelt – und über ein System der sozialen Kontrolle. Wer in Nablus wohnt, weiß spätestens nach einigen Stunden, was am anderen Ende der Stadt passiert. Man ist unter sich, jeder kennt jeden. Dieses Prinzip ist die einzige Sicherheit der Stadt. Deswegen werde uns auch nichts zustoßen, hatte schon Sifuam gesagt. Und wenn doch, werde Rache geübt.

Askar ist ein kleines Dorf, in den letzten Jahrzehnten haben sich die Menschen hier Häuser aus Stein gebaut, samt Kanalisation und Stromversorgung. Auch einen Arzt gibt es, einen für das gesamte Flüchtlingsareal, auf dem einige zehntausend Menschen leben. Die Jugendlichen haben keine Beschäftigung, die Erwachsenen keine Arbeit, die Kinder spielen auf der Straße, und die Reha-Praxis im Gemeindezentrum kann nur wenige der seelischen und körperlichen Schäden heilen. Dort ist auch Rfaies Büro. An der Wand: zweimal überlebensgroß Jassir Arafat. „Wie ein Vater“ sei der gewesen, sagt der Gemeinde-Chef, der mit seinen beiden jungen palästinensischen Assistentinnen scherzt, die hier Freiwilligenarbeit leisten. Die eine mit Kopftuch, die andere ganz westlich gekleidet. Von seinem Traum, nach Jaffa zurückzukehren, spricht er, in diese Stadt nahe Tel Aviv, in der er nie war, aus der sein Familie vertrieben wurde. Vom Gefängnis erzählt er, in dem er saß, zuletzt vor drei Monaten, insgesamt mehrere Jahre. „Das war meine Universität.“ Von seinen Landsleuten redet er, die – wie er selbst – seit Monaten kein Gehalt bekommen haben. „Die Palästinenser“, warnt Rfaie, „werden bald verrückte Dinge tun, weil sie keine Hoffnung mehr haben.“

Vom höchsten Punkt im Flüchtlingslager aus kann man die Umgebung überblicken. Auf den Bergrücken im Süden blinken die roten Dächer der jüdischen Siedlung Berakhya, im Osten kann man Elon More erkennen, wo 1.200 radikale Siedler abgeschirmt leben, erreichbar nur über Siedlerstraßen, auf denen keine Palästinenser fahren dürfen. Und auch Huwwara ist in der Ferne zu erahnen, einer der berüchtigtsten Checkpoints im gesamten Westjordanland. Hier muss durch, wer nach Nablus hinein will – oder hinaus: nach Ramallah oder Jerusalem.

Rfaie hat uns ein Taxi dorthin organisiert, ein paar hundert Meter vor dem Checkpoint bleibt es in einem Stau stecken, den anscheinend ein Krankenwagen verursacht hat. Aufgeregt laufen die Menschen umher, ein Mann soll in dem Auto liegen, soeben erschossen von den Israelis. Kollegen von einem palästinensischen Fernsehteam beruhigen: Ein Gerücht, alles ruhig. Also warten.

Raus nach Ramallah

In dem Staub und der Hitze von Huwwara versteht man, wie es sein kann, dass Sifuam es erst zweimal bis Ramallah geschafft hat. Die israelische Armee hat Angst vor jungen palästinensischen Männern. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich die meisten Selbstmordattentäter. Wenn Männer wie Sifuam überhaupt durch den Checkpoint dürfen, dann nur nach stundenlangem Warten in der Hitze.

Eingerahmt von fliegenden Schawarma-Händlern, müssen alle Menschen durch eine Baracke, die von einem Wachturm flankiert ist. Nacheinander geht’s einzeln durch ein Drehkreuz, das seitlich durch Gatter begrenzt ist. Links ein junger Soldat, dessen Gewehrlauf ungemütlich nahe ist, rechts eine junge Soldatin, die mit divenhafter Überheblichkeit Pass und Gepäck untersucht. Dann ist man durch – und noch drei Checkpoints von Ramallah entfernt.

Einen Tag später steht in der Jerusalem Post, dass israelische Soldaten am Übergang Huwwara zwei Männer gestellt haben, die Nägel und einige Kilo Sprengstoff bei sich hatten. Mutmaßliches Ziel: ein Jugendfestival in Jerusalem.