90 MINUTEN … MIT HERRN CHARIÉ IM AACHENER HOSPIZ HAUS HÖRN

Beim 1:0 sagt er „Ja, schön“, atmet dann tief und döst ein wenig ein

Das Hospiz Haus Hörn in Aachen ist seit 20 Jahren ein Ort der letzten Tage, „für die Lebensendphase“, wie es hier heißt. Ja, sagt am Telefon Jeannette Curth, die Pflegeleiterin, wer es noch könne, sich für Fußball interessiere, der gucke auch hier die WM. Herr Charié besonders. Er freue sich, mit einem Reporter Deutschland – Ecuador zu gucken.

Tags drauf geht es Hans Charié, gerade 80 geworden, seit WM-Beginn im Hospiz, nicht gut. Ein hagerer Mann mit buschigen Augenbrauen und aristokratisch fein geschnittenem Gesicht liegt im Bett. Der Händedruck ist fest. Mühsam versucht er, zum Fernseher zu gucken. „Voll bei der Sache bin ich nicht“, entschuldigt er sich, „als schwer kranker Mensch.“ Gleich das 1:0. „Ja, schön“, sagt Herr Charié. Eine Ahnung von Lächeln. Dann atmet er tief und döst ein wenig ein.

Mit dabei ist sein Bruder Friedrich, 75: „Noch vor zwei Tagen“, sagt der, „hat mir Hans am Telefon erzählt, wie schwer sich Frankreich gegen Korea getan hat.“ Und gestern habe man noch so schön zusammen gelacht. „Aber jeder Tag ist anders. Heute morgen hat er sich noch so aufs Spiel gefreut.“ Herr Charié macht wieder die Augen auf, sieht sich um, lächelt kurz, trinkt etwas. „Gegen Polen, das war ein heißes Spiel“, sagt er, Mensch, und dann die letzte Minute.“

Die Hospizabteilung von Haus Hörn hat Platz für 17 Gäste. Man sagt „Gäste“, nicht „Patienten“, hatte Jeanette Curth erläutert. Patienten seien die im Krankenhaus, „da steht die Gesundheit im Vordergrund, der Kampf uns Leben. Bei unseren Gästen nicht mehr“, sagt sie mit einer leisen, ruhigen Stimme. „Wir wollen ihnen helfen, die letzten Tage des Lebens würdevoll zu verbringen, sie begleiten, ohne Schmerzen, ohne Qual, ohne Aufregung. Als wären sie zu Hause.“ 14 Gäste sind meist da, durchschnittlich bleiben sie noch 10 Tage in Haus Hörn. „Wir haben gute Arbeit gemacht, wenn die letzten Tage richtig rund laufen.“ Fußball gucken, sagt Curth, gebe manchen „ein bisschen Lebensfreude und Kraft“.

„Tor“, sagt Bruder Friedrich. 2:0. „Hast du gesehen, Hans? Wieder Klose.“ Hans Charié öffnet die Augen. „Ja, ja, habe ich im Nachhinein gesehen.“ Er meint die Zeitlupe. „Schön. Ist schon gut.“ Und dann ein „Ach“ mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er schließt wieder die Augen. Und ballt im Schlaf kurz die Fäuste. „Ach, Hans“, sagt Friedrich. „Gestern wäre er noch aufgestanden und man hätte gedacht, er wollte mitspielen.“

Nicht allen Gästen ist bewusst, warum sie im Hospiz sind. Hans Charié, der frühere Generalvertreter für Bestecke und Porzellan, weiß es. „Als wir unten vor der Tür ankamen“, erzählt der Bruder, „hat Hans einen kleinen Moment innegehalten und gesagt: Hier gehen die Leute zum Sterben hin.“ Und sei hineingegangen. „Schreiben Sie, ich bin sehr besorgt um meinen Bruder.“

In Berlin toren die Helden. Auf den Straßen toben die Herden. In Haus Hörn gehen Leben zu Ende. Herr Charié schnarcht eine leise Melodie. Den neuen Weltmeister wird er wohl nicht mehr kennen. BERND MÜLLENDER