Beten und Stehlen

Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Verdorbene Ministranten

Meine kriminelle Karriere begann kurz nach der heiligen Erstkommunion und dauerte etwa zwei Jahre. Als Sohn katholischer Eltern und als regelmäßiger Kirchgänger wollte ich damals nur eines werden: Ministrant! Was hatte ich diese coolen Jungs immer bewundert. Wie sie in ihren schönen Kostümen hinter dem Pfarrer den Altarraum betraten, hin und wieder eine kleine Glocke schwenkten und bei festlichen Anlässen sogar Weihrauch verteilen durften. Dann endlich war ich einer von ihnen.

Das Leben des Ministranten spielte sich freilich nicht nur in der Kirche, sondern auch einmal wöchentlich im so genannten Ministrantenunterricht ab. Immer mittwochs traf man sich im Gemeindehaus, um mit dem Oberministranten oder dem Pfarrer wichtige Dinge zu besprechen. Nach dem dritten oder vierten Ministrantenunterricht sagte Hans, der stärkste und dickste unserer Gruppe, er wohne ganz bei mir in der Nähe. Also radelten wir gemeinsam nach Hause. Als wir an einem Edeka vorbeikamen, sagte er: „Komm mit, wir holen uns Marzipankartoffeln!“ – „Ich habe aber kein Geld“, sagte ich und Hans schaute mich an, als hätte ich ihm eben gestanden, eigentlich ein Mädchen zu sein. „Na und?“

Also trottete ich hinter ihm in den Edeka, und noch ehe ich es richtig kapiert hatte, befand sich eine Packung Marzipankartoffeln in meiner Parkatasche. Hans hatte sie flink und behende dort hineinrutschen lassen und auch bei ihm raschelte es seltsam in den Taschen, und als wir zur Kasse kamen, kaufte er fünf Brausestäbchen, und schon waren wir wieder draußen. „Na, ging doch ganz einfach“, lachte er. Dann bogen wir um die Ecke, zeigten uns unsere Marzipankartoffeln, steckten ein paar davon in den Mund und gingen unseres Weges. Am nächsten Mittwoch das gleiche Spiel. Diesmal waren wir schon zu viert. Rein in den Edeka, ans Süßigkeitenregal, Marzipankartoffeln in die Parkatasche, an die Kasse, eine Winzigkeit für 20 Pfennige gekauft, raus, gelacht, nach Hause gegangen. So ging das nun Woche für Woche, Monat für Monat. Es wurde regelrecht zum Ritual: Erst Ministrantenunterricht, dann Marzipankartoffeldiebstahl. Wenn mein schlechtes Gewissen nach mehreren Wochen so unerträglich geworden war, dass ich kurz davor stand, wieder ehrlich zu werden, ging ich einfach schnell beichten. Das Beichten war damals groß in Mode. Man ging im Pulk in die Kirche, betrat – einer nach dem anderen – den Beichtstuhl und ratterte hastig und für den alten Pfarrer akustisch schwer verständlich ein paar Beichten herunter. Ich beichtete natürlich nie „Ich habe gestohlen“, sondern immer „ich war unehrlich“. Und schon war man wieder ein reiner und befreiter Mensch!

Die Marzipankartoffeln schmeckten uns nach einiger Zeit nicht mehr. Ich verkaufte meine Beute an meine kleine Schwester, die ihr ganzes Taschengeld dafür hergab. Hans, der Dicke, hatte inzwischen das Rauchen angefangen, und wir, seine kleinen katholischen Freunde, wollten uns da natürlich keine Blöße geben. Also fingen wir auch an zu rauchen. Und da wir kein Geld hatten, klauten wir die Zigaretten. Das ging damals noch sehr, sehr einfach. Die Zigaretten lagen nicht – wie heute – an den Kassen, sondern irgendwo mitten im Laden. Das Mittwochsspielchen ging also munter weiter und die gestohlene Packung Reval reichte immer gerade für eine Woche. Und niemals wurden wir erwischt. Hoffentlich liest Gott keine Zeitung!

MAX LAMPIN