Attacken der Zartheit

LYRIK Die Unschärfe der Dinge: Marion Poschmanns suchender, gelehrter und lustiger Band „Geistersehen“

Das Ich dieser Gedichte sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass die Dinge, je näher man sie anschaut, umso ferner zurückschauen

VON ANDREAS WIRTHENSOHN

In Thomas Manns „Zauberberg“ findet sich die berühmte Schilderung zweier spiritistischer Sitzungen, an denen Hans Castorp in einer seltsamen Mischung aus Skepsis, Neugier und – dank des Mediums Ellen Brand – erotischer Gespanntheit teilnimmt. Dabei gerät zunächst ganz klassisch ein Glas in Bewegung und zeichnet fleißig Buchstaben auf den Tisch: Die „Geister Abgeschiedener“ sprechen zu den Anwesenden, und zwar über eine „Intelligenz“. Die trägt den nicht wirklich esoterischen Namen Holger und ist von Beruf – „Dichtr“. „Und dann begann spirit Holger zu dichten und dichtete umständlich, ausführlich und ohne Besinnen, wer weiß wie lange, – es schien, als werde er überhaupt nie wieder zum Schweigen zu bringen sein.“

Thomas Mann hat in seinem Roman Erfahrungen ironisiert, die er selbst gemacht hat. Anfang der 1920er Jahre hatte er an einigen Sitzungen teilgenommen. Offenbar schwankte er dabei ähnlich wie sein Romanheld zwischen rationaler Ablehnung und emotionalem Fasziniertsein: „kichernd und nicht mehr ganz unbehelligt von jenem / erotischen Grusel, daß etwas ans Licht kommt, was nichts ist / als Licht“.

Das Ding aus Dunst

Das steht nicht beim „Zauberer“, sondern bei Marion Poschmann, die Thomas Manns Séance beim Baron ein Gedicht gewidmet hat, und schon der Titel ihres Lyrikbands scheint anzudeuten, dass es in diesen Poemen vor allem um Übersinnliches geht: „Geistersehen“. Das lässt nicht nur Friedrich Schillers Romanfragment „Der Geisterseher“ anklingen, sondern spielt auch mit dem seit der Antike bekannten Konzept des Poeta vates, das den Dichter als Seher begreift. Das Faszinierende an Poschmanns Gedichten besteht nun aber gerade darin, dass sie das Geistersehen gleichsam auf den Kopf stellen: Sie versuchen hinter das Sichtbare der Dinge zu blicken, doch dort verliert der Blick sogleich radikal an Schärfe: „was uns die Sicht verbarg, / war das Sichtbare; und wir / kontemplierten das Ding aus Dunst.“

Diese Poetik der Unschärfe zeigt sich schon an den Titeln der einzelnen Gedichtgruppen: „Testbilder“, „Störbilder“, „Spiegelungen“, „Trugbilder“ heißen sie unter anderem, und auch in den Gedichten selbst dominieren „vage Ein-“ und „Aussichten“. Klarheit gibt es allenfalls „als ob“ und im Konjunktiv: „als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster / auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster, / zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier.“

Das Ich dieser Gedichte, das nicht selten ein Wir ist, sieht sich ständig mit dem Problem konfrontiert, dass die Dinge, je näher man sie anschaut, umso ferner zurückschauen. Oder anders gewendet: Das Ich wird „ganz Auge, ich war das Haschen nervöser / Bilder, Beziehungsgeflechte erinnernd“. Innen und außen, das Ich und die Dinge, die Bilder und ihre Spiegelungen verschwimmen fortwährend, und nicht selten fühlt man sich als Leser wie in einer der irritierenden Rauminstallationen von Olafur Eliasson, wo man sich durch vielfarbige Nebelräume tastet oder das eigene Bild in tausend gespiegelte Teile zerfällt. Ähnlich staunend wandelt man durch die Poschmann’schen „Rohrschachmuster“, „Kachelraster“ und „Gedächtnisfältelungen“, die in der wahrnehmbaren Wirklichkeit ihren Ausgang nehmen und ganz schnell dort landen, wo es mit den Gewissheiten des Sichtbaren vorbei ist. Autobahnraststätten, Industriebrachen, Truppenübungsplätze, ein Herbarium, Gemälde von Velázquez, da Vinci oder Bacon – das Auge des Ichs hält sich stets hart an die Realität, ohne sie je als endgültig gegeben zu betrachten. Die Gedichte werden damit zu so „etwas wie Suchbewegungen, wie Orientierungs- / verhalten zur einen, zur anderen Seite“, „trostlose Tröstungen“, die der Unschärfe der Dinge mit der poetischen Geordnetheit des Gedichts (etwa in Form des Sonetts) zu Leibe rücken.

Lehrpfad der Abwesenheit

Die 1969 geborene Marion Poschmann vermag sowohl prosaisch als auch lyrisch zu glänzen. Ihr „Schwarzweißroman“ (2005) bestach durch die beklemmende Schilderung der russischen Industriestadt Magnitogorsk; ihre „Hundenovelle“ (2008) ließ die Begegnung einer Frau mit einem Hund in beklemmende Todesbilder münden; und ihr Lyrikband mit dem schönen Titel „Grund zu Schafen“ (2004) bewies, dass das Naturgedicht noch immer ein produktives Genre darstellt.

Auch in „Geistersehen“ zeigt Poschmann, dass sie nicht nur die lyrische Tradition gut kennt – vor allem die Barockliteratur hat es ihr angetan –, sondern auch die bildende Kunst als Inspirationsquell zu nutzen weiß. Diese „Gelehrtheit“ macht die Gedichte mitunter etwas spröde, aber sobald man sich auf den Wahrnehmungsmodus dieser Lyrikerin einlässt, werden die Verse zu „Spähtrupps des Unterbewusstseins“, und der Gedichtband in seiner sorgfältig ausgetüftelten Gesamtstruktur wird zu einem „Lehrpfad der Abwesenheit“.

„die Zartheit des Daseins attackiert uns schärfer und genauer / übergenau bis zum Punkt einer neuen Unschärfe“. Als Aufklärung durch Verunklärung könnte man das Prinzip dieses Dichtens bezeichnen, das uns „spirit Marion“ vor Augen führt.

Marion Poschmann: „Geistersehen“. Suhrkamp, Berlin 2010, 126 Seiten, 17,80 Euro