Ikonen überleben nicht

Die Erinnerungen der fast vergessenen Topspionin Ruth Werner erscheinen erstmals mit bislang zensierten Stellen. Ihre bedeutendste Tat war, der Sowjetunion den Bau der Atombombe zu ermöglichen

Wer heute nach Ruth Werner fragt, bringt selbst gelernte Ostdeutsche in Verlegenheit. Und das, obwohl Werner zwei Bestseller in der DDR hatte: „Olga Benario“, eine Biografie der berühmten Revolutionärin und Spionin, und „Sonjas Rapport“, ebenfalls eine Biografie einer bedeutenden Spionin. Und diese Spionin war Werner selbst.

Geboren wurde sie als Ursula Ruth Kuczynski in Berlin, sie wuchs als Tochter des berühmten Statistikers René Kuczynski auf. Ähnlich wie ihr Bruder Jürgen, der spätere weltbekannte Ökonom, wandte sie sich bald der Kommunistischen Partei zu. Schnell fiel sie den Funktionären durch ihre Begeisterungskraft auf, vor allem aber durch ihre Disziplin. Sie ging 1930 mit ihrem ersten Mann nach China und half dort im Auftrag der Partei unter anderem dem berühmten Spion Richard Sorge dabei, Treffen mit chinesischen Partisanen zu organisieren und deren Waffen zu verstecken. Nach einer Ausbildung in Moskau war sie Funkerin, arbeitete unter dem Decknamen „Sonja“ zunächst in China, dann in Prag und Danzig, wo sie begann, Widerstandsgruppen aufzubauen.

In der Schweiz, in der sie nun Funker ausbildete, funkte sie 1939 für Sandor Rado, der wie Sorge vergeblich versuchte, die Sowjetunion vor dem Einmarsch der deutschen Truppen zu warnen. Ihre bedeutendste Tat war es, ab 1943 mithilfe des Physikers Klaus Fuchs Grundlagen für den Bau der Atombombe in die Sowjetunion zu übermitteln. Später gelang es ihr, den amerikanischen Geheimdienst abzuschöpfen. Daneben zog sie drei Kinder groß, die, wie sie feststellte, zudem eine gute Tarnung boten. 1950 ging sie in die DDR, zog sich, nun Oberst der Roten Armee, aus der Arbeit für die Sowjetunion zurück, eine zweite Karriere als Mitarbeiterin im Ostberliner Amt für Information scheiterte dann daran, dass die ostdeutschen Genossen sie für ein Sicherheitsrisiko hielten.

Dabei hat immer Ruth Werner über ihre Tätigkeit geschwiegen, wenn es ihren alten Auftraggebern lieb war. So war in „Sonjas Rapport“ keine Zeile über ihre Arbeit mit Klaus Fuchs zu lesen. Das Werk liest sich als das einer zurückhaltenden Genossin, die ihre Pflicht getan hat. Erst 1991, in einer ersten englischen Ausgabe, hatte Werner auch ein Kapitel über Fuchs eingefügt, zudem sprach sie über die unter Stalin ermordeten Kolleginnen und Kollegen, deren „Verschwinden“ sie damals im Rahmen der Konspirativität für „richtig“ hielt. Dass die Partei immer Recht hat, glaubte Werner, die im Jahr 2000 starb, allzu lang.

Die jetzt erschienene „erste vollständige Ausgabe“ des Buchs bringt neue Textstellen; woher diese jedoch stammen, behält der Verlag für sich. Sind es Rückübersetzungen aus dem Englischen, neue oder gar alte, von der DDR unterdrückte Textteile, die sich nun in den bislang bekannten Text des Rapports eingelegt finden? Immerhin hat der Verlag ein Interview mit Werners Kindern angehängt, die kritisch die manchmal schöngefärbten Erinnerungen ihrer Mutter kommentieren.

Dass Ruth Werner heute vergessen ist, ist ein Ärgernis. Während von Olga Benario oder „Genossin Tanja“ zumindest der Mythos weiterlebt, ist „Sonja“ vergessen. Selbst heutigen Genossinnen und Genossen sagt ihr Name nichts. Es liegt wohl daran, dass sie überlebt hat – und daher nicht zur Ikone taugt. Auch der Linken sind offensichtlich Märtyrerinnen lieber als Spioninnen, die nicht erwischt wurden.

JÖRG SUNDERMEIER

Ruth Werner: „Sonjas Rapport“. Verlag Neues Leben, Berlin 2006, 370 Seiten, 19,90 Euro