Kühe, Käse, Comics

Nicht nur die Korsen sind – wie man weiß – eigenwillig. Auf der Urlaubsinsel mit der deftigen Küche und dem reifen Käse bietet sich den Touristen auf der Straße auch ein veritabler Zoo. Von „vache“-echten und anderen Tieren auf Korsika

von GUDRUN MANGOLD

Aus einem blauen Gendarmerie-Bus starren vier Uniformierte auf den vor ihnen fahrenden Kleinwagen. In dem sitzen vier Gestalten, vermummt und bewaffnet bis an die Zähne. Ein Gebirgsdörfchen und weidende Kühe im Hintergrund, neben der Straße das Warnschild: „Vaches Reelles!“ Die Kühe sind echt. Im Streifenwagen heißt es: „On roule calmement! Pas de provocation!“ (Wir fahren ruhig weiter! Keine Provokation!“) Eine Szene aus „L’Enquête Corse“, einem Comic von Pétillon. Die Gendarmen vertreten die ferne Pariser Regierung, und dies lieber behutsam. Auf Korsika lebt bekanntlich ein selbstbewusster Menschenschlag mit eigenen Gesetzen, bei deren Einhaltung ab und an auch eine Bombe hochgeht. Doch was sind „Vaches Reelles“, und vor allem, was sind die später im Heft erwähnten „Vaches Fictives“?

Dass man mit den leibhaftigen Hornviechern auf Korsika immer und überall rechnen muss, merken wir bereits auf der ersten Etappe unserer Tour durch die Castaniccia, den zauberhaften Kastanienwald im Norden der Insel. In den engen, kurvenreichen Bergsträßchen tauchen immer wieder urplötzlich Kühe und Kälber vor uns auf. Erst meinen wir, sie seien ausgebrochen. Aber es werden zu viele. Die Rinder müssen sich ihr Futter im steilen, von Wald und Macchia überwucherten Gelände zusammensuchen. Auf der ebenen Straße stehen sie gern in Gruppen beieinander oder sie liegen einfach so am Wegesrand zum schläfrigen Wiederkäuen.

Weit oben, wo es kärger ist und ein kräftiger Wind pfeift, treffen wir auf Schweine, auch sie schnüffeln frei durchs Gelände. Eine der Sauen hat neben rosaroten Ferkeln auch ein paar braun gestreifte im Gefolge. Die liebe, wilde Verwandtschaft … Wieder weiter unten trippeln Geißen unbekümmert über den Asphalt und machen Turnübungen auf der steinernen Begrenzung vor dem steilen Abgrund. Ein mächtiges Maultier vervollständigt die bunte Menagerie. Der zottige Graubraune steht hoch über uns auf einer Mauer, die ein Hang-Grundstück begrenzt, und scheint zum Absprung bereit. Uns ist vollkommen klar: „On roule calmement et pas de provocation!“

Wir suchen das ursprüngliche Korsika. Man empfiehlt uns eine Ferme bei Murato. Da koche die Mutter ein bombastisches Tagesmenü. Mit einem gezeichneten Plan ziehen wir los. Im Abendlicht passieren wir Muratos berühmte romanische Kapelle San Michele. Lange nach dem Ort gerät eine Bache mit ihrer Kinderschar in unser Scheinwerferlicht, diesmal alle gestreift. Von der Ferme, die uns wärmstens empfohlen wurde, keine Spur.

Also zurück nach Murato. In der nur von Männern besetzten Bar erklärt man uns bereitwillig den Weg. Wir zögern. Sollen wir wirklich die befestigte Straße verlassen und unser Auto diesen holprigen Weg ins Ungewisse hochquälen? Wir haben uns so auf das formidable Essen gefreut und wagen es. Die Karre schiebt sich die Kurven hoch. Nichts. Wir schreiben den Abend, zumindest das Abendessen, schon fast ab. Endlich dann ein paar einzelne Lichter.

Madame erwartet uns strahlend unter der Tür – wir hatten reserviert. Im Kamin knistert es. Gerne lassen wir uns von der wohligen Stimmung in dem innen wie außen unverputzten Steinhaus umfangen und bestellen dankbar den empfohlenen Aperitif – einen Muscat vom Cap Corse. Köstlich.

Das Menu ist bäuerlich-urig, weit entfernt von den an der Küste angebotenen Pizzen und Spaghetti-Gerichten. Zuerst gibt es dicke Bohnensuppe. Dann kräftig schmeckenden Schinken. Als Hauptgang Koteletts von einem halbwilden Schaf und als Dessert „Storzapretis à la bastiaise“, Knödel, von denen die Priester den Hals nicht voll bekommen, erläutert die Wirtin glucksend. Ein sauberer roter Hauswein begleitet die Speisenfolge.

Jetzt kommt der Hit. Käse. Auf Korsika selbstverständlich Brocciu, der traditionelle Schafkäse. Drei Varianten stellt Madame uns in einem mit Blättern ausgelegten Korb auf den Tisch. Dazu Marmelade aus grünen Tomaten und Mandarinenlikör. Bei einem der drei Käse verschlägt es uns nacheinander und auch dem Hartgesottensten unter uns die Sprache. Wenn man nicht wüsste, dass es sich um etwas Essbares handeln m u s s, würde man die Masse weder von der Farbe (Steingrau) noch vom Geruch (beißend) anrühren. Die endgültige Entscheidung bringt der erste kleine Löffel. Ich streike. Das kann ich nicht essen. Ich kann nur vermuten, dass es sich um nach unseren Begriffen längst verdorbenen Käse handelt, der mit viel Schärfe und Schnaps zu einer Art Explosionsmittel zusammengerührt wurde. Jetzt wird mir auch das Asterix-Heft verständlich, in dem ein korsischer Käse eine Schiffsdetonation auslöst, weil eine Fackel in seinen Dunstkreis gerät.

Noch einen wundermilden Muscat bitte, mit dem alles so schön angefangen hat. Der muss uns jetzt wieder mit der Welt und der Ferme versöhnen. Nach diesem Abenteuer noch das nächste – zurück im steilen Gelände. Es ist kuhnacht. Trotz etlicher friedlich, aber unangekündigt – was sonst? – am Straßenrand dösender Rinder geht es gut.

Tags drauf wollen wir an der wilden Ostküste entlang nach Calvi, der stolzen Hafenstadt mit ihrer imposanten Wehranlage. Vor und hinter den Kurven immer wieder Kühe und Kälber. Wir würden sie bereits vermissen. Wenn ein Auto entgegengepfiffen kommt, rückt, je nach dem, der Fels oder der Abgrund bedrohlich nahe. Gerade als wir die bequeme Schnellstraße erreichen, sehen wir etwas schreckliches großes Schwarzes. Eine tote Kuh auf dem Seitenstreifen. Wie so was passieren kann, braucht man nicht fragen. Wir steigen aus. Der entsetzlich widerliche Geruch wird uns den ganzen Tag begleiten.

Am nächsten Morgen mache ich mich allein und zu Fuß auf den Weg durchs grüne Nebbio-Tal. Vorbei an Viehweiden, diesmal ausnahmsweise richtige Wiesen und sogar eingezäunt. Hinter den Weiden erheben sich fast senkrecht blanke Felsen, in der Ferne Weinberge.

Gegen Mittag kehre ich um. Doch nun bietet sich mir ein anderes Bild. Auf der Straße, dem einzigen Weg durch das Tal, stehen jetzt Gehörnte. Da – grade setzen wieder zwei erstaunlich elegant über den Zaun. Die sind wahrhaftig am Ausbüxen. Heute Morgen war da auch ein stattlicher Bulle dabei. Ich mache keinen einzigen Schritt mehr vorwärts.

Was nun? Ich setze mich auf die Straße, auf der mir heute insgesamt zwei Autos begegnet sind. Jetzt sind alle Korsen, da sind sie ganz Franzosen, beim ausgiebigen Mittagessen, danach ist Siesta. Toller Ausflug in die Natur.

Ich sitze und sitze. Die Sonne brennt auf mich herunter. Meine Flasche Wasser ist leer. Endlich ein Auto. Es fährt in die falsche Richtung. Irgendwann kommt ein kleiner, weißer Lieferwagen herangeklappert. Ich springe auf, halte den erstaunten Mann an, berichte aufgeregt von meinem Malheur und bitte inständig um Schutz in seinem zerbeulten Transporterchen. Der Mann lacht. Der Stier sei „tres gentile!“, sehr freundlich, ich bräuchte keine Angst haben. Bitte, ich möchte trotzdem einsteigen. Der Mann nickt. Wir fahren langsam durch die Herde, und ich komme sicher nach St. Florent, das quirlige, kleine Küstenstädtchen, wo ich mit meinen Freunden verabredet bin.

Was „Vaches Reelles“ sind, weiß ich jetzt. Aber „Vaches Fictives“? Die seien für die Subventionen, erklärt uns ein Festlandfranzose im Café, halb neidisch, halb bewundernd. Wie soll man auch frei laufende Rinder zählen?, fragt er als Beweis und stellt sich selbst in Frage.

Mir scheint zweifelhaft, ob man noch mehr Kühe angeben kann, als ich allein in diesen Tagen schon gesehen habe. Sicher ist, es gibt unglaublich viele „vache“-echte und andere Tiere auf Korsika. Selbst wenn die Viecher (zunächst) eingezäunt sind, ist zu empfehlen: „On roule calmement!“ und „Pas de provocation!“