RAVEN AUF BRÜCKEN, ÖFFENTLICHEN TOILETTEN UND IN EINEM EHEMALIGEN MUNITIONSLAGER DER VOPO
: Gröbste Geschmacklosigkeiten

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Ein Wochenende als fast schon unheimliche Annäherung an einen Sommerwochenendtraum. Ein dicker fetter Fehdehandschuh vom Wochenende, geworfen gegen letzte Reste von über die ersten Frühlingsrunden geretteter Wintertrübsal. Und das, obwohl doch an diesem Wochenende eigentlich endlich ein Club gefunden werden sollte, der frühen britischen Happy Hardcore spielt, und außerdem der Bolaño-Schinken auszulesen war. In beiden Punkten gescheitert, und trotzdem eitel Sonnenschein.

In der Dämmerung des Freitagabends bildet sich auf der Kanalbrücke zwischen Pannier- und Glogauer Straße ein Flashmob. Leute mit Bierflaschen umtanzen vor Freude kreischend ein auf ein Fahrrad montiertes Soundsystem, aus dem Michael Jackson – pünktlich zu seinem Todestag – die Jungkreativen-Hymne „Wanna Be Startin’ Somethin’“ juchzt. Zwei Vorbeifahrende auf Vintage-Hollandrädern, offenbar keine Early Adopter in Sachen Trend zur Brücke, rufen begeistert: „That’s a GREAT idea!“

Dann rollt ein tiefergelegter Golf auf die Brücke, die Außenspiegel sind mit Deutschland-Textil bezogen, die Unterbodenbeleuchtung strahlt neonblau. Vor der Brückenparty stoppt der Wagen, lässt provozierend den Motor aufheulen, mehrfach – und die Feiernden applaudieren, gar nicht herablassend, sondern ehrlich angetan.

Zwei Brücken weiter ist wegen „48 Stunden Neukölln“ die ehemalige öffentliche Toilette am Wildenbruchplatz der Kunst zugeschlagen worden. Das Brackwasser im Kanal stinkt, die Ex-Abort stinkt, in einer Videoinstallation am Boden umspült Milch eine männliche Brustwarze, die Klosprüche an der Wand zeugen von der Zeit vor der Kunst: „Mann, geil, sucht ebensolche Männer, behaart, auch besoffen“.

Auch am Tag drauf behauptet sich Neukölln als vitalster Bezirk der Stadt. Überall ist irgendwas offen. Überall sieht alles anders aus als letztes Jahr noch. Überall sind Menschen, die alles sprechen, nur nicht Deutsch. Im Fenster einer Eckkneipe spielen schwedische Mini-Franz-Ferdinands Devo-imprägnierten Hipsterpunk. Auf der Weserstraße kaum ein Durchkommen. Männer flanieren in silbrigen Miniröckchen. Bunte Pappbrillen werden gekauft und getragen.

In einem Laden, der irgendwas zwischen Galerie und Knuddeltiergeschäft für die Queer-Szene ist, ejakuliert auf einem Gemälde namens „Forest of Fantasy“ ein nackter Mann Maiglöckchen. Als wir später vor dem Fahrradladen-Schaufenster von G. sitzen, stellt ein Vorbeilaufender seinem Begleiter die komplexe Frage „Dykes or bikes?“, und die Antwort kommt pfeilschnell: „Dykes and bikes!“ Der einzige Wehrmutstropfen dieses Abends: Die Pigalle-Bar in der Friedelstraße hat neu eröffnet, als denkbar gröbste Geschmacklosigkeit, verantwortet von einem Konsortium aus 25 Mitte-Werbern. Und dann platzt der Laden mit seinem verspiegelten Barbereich, den rotsamtenen Barhockern und dem Lüsterkabinett auch noch aus allen Nähten. Die Legende will, dass Sabine Christiansen am Nachmittag das Band zerschnitt.

Am Tag des Achtelfinales ein bisschen Sport. Auf der Radautobahn um den Müggelsee duften die Kiefern berauschend, der Bahnhof Wilhelmshagen ist ein Tor in eine andere Welt – man tritt durch die Tür und steht im Wald, folgt den Kreidepfeilen und kommt zur Sanddüne, einem ehemaligen Munitionslager der Volkspolizei. Da dann ein Open-Air-Rave. Fußball läuft auf einem Bettlaken, Minimal-Geplucker untermalt die Müllerschen Treffer.

Will man einen Hotdog, muss man ein kaltes Würstchen aus dem Glas fischen und in eine harte Schrippe stecken. Nach dem Spiel legt die barfüßige DJ Blaze auf: „It’s a lovely day, and the sun is shining, everywhere I go, I see children smiling“. Da lächeln die Babys, trotz der knallgrünen Ohrschützer, die sie auf dem Rücken ihrer tanzenden Eltern zu tragen haben.