Finnland wird Atomreservat

ENERGIEWIRTSCHAFT Ein neues AKW ist bereits genehmigt und im Bau. Zwei weitere sollen nach dem Willen der Regierung hinzukommen. Doch die neue Atomkraft ist gar nicht für den finnischen Markt gedacht, sondern für den Export. Windenergie könnte dann durch Stromüberschuss unwirtschaftlich werden. Der ganze nordeuropäische Markt wäre davon betroffen

Seit einigen Jahren stagniert die Stromnachfrage, ein Sinken zeichnet sich ab

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Mit dem alten Argument „Die Lichter gehen aus“ wird Finnlands Bevölkerung zurzeit die Notwendigkeit des Baus neuer Atomreaktoren verkauft. Am 1. Juli soll der finnische Reichstag dem Antrag der Regierung folgen und den Bau von gleich zwei neuen Atomreaktoren genehmigen. Für Industrie, die zunehmenden Dienstleistungen und den „technischen Fortschritt der Gesellschaft“ brauche man immer mehr Strom, begründete der Sozialdemokrat Jouko Skinnari, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Parlaments, das Ja seines Ausschusses zu neuer Atomenergie. Sie sei außerdem „klimafreundlich“ und neue AKWs würden Finnland von Stromimport unabhängig machen.

„Alles manipulierte Prognosen“, sagt Paavo Arhinmäki, Vorsitzender der finnischen Linkspartei. Seine Partei hat sich zur glaubwürdigsten Anti-AKW-Partei gemausert, da die Grünen mit in der Regierungskoalition sitzen, die die neuen Atomreaktoren beschließen will. Neue Atomkraft sei gar nicht für den einheimischen Markt gedacht, kritisiert Arhinmäki: Internationale Stromkonzerne wie die deutsche Eon, Teilhaberin an einem Baukonsortium, das in Nordfinnland nahe der schwedischen Grenze ein AKW errichten will, zielten bei ihren Investitionen auf den Export. Finnland werde nur wegen seiner atomfreundlichen Politik zum Standort gewählt. Das Land werde zu einem „Atomreservat“: zuerst was den Atomstrom, dann was den Atommüll angehe.

Auch im 1.000 Kilometer entfernten Dänemark fürchtet man ein entsprechendes Votum. „Dieser Ausbau wäre Gift für uns“, sagt Lars Aagaard, Direktor von Dansk Energi. In ganz Nordeuropa würde der Bau neuer AKWs zu einem Überschussangebot an Elektrizität führen, befürchtet Aagaard. Der Strompreis werde fallen und viele geplanten Investitionen in Windkraft und andere erneuerbare Energiequellen könnten dadurch unrentabel werden. Bereits wenn das derzeit in Bau befindliche AKW „Olkiluoto 3“ 2013 oder 2014 ans Netz gehe, erwarte die Branche Preissenkungen auf dem gemeinsamen nordischen Strommarkt um 2,5 bis 6,5 Prozent.

Die Zahlen sprechen für die Atomkritiker. Finnlands vier gegenwärtige Reaktoren produzierten 2010 mit 22 Terawatt 33 Prozent des Strombedarfs des Landes. Mit der Inbetriebnahme von Olkiluoto 3 und der Verwirklichung der beiden Neubauprojekte würde sich die AKW-Kapazität von jetzt 2.600 um 5.100 bis 5.500 Megawatt auf 7.700 bis 8.100 Megawatt verdreifachen. Nach gegenwärtigen Verbrauchszahlen würde der einheimische Strombedarf damit rechnerisch zu 100 Prozent mit Atomstrom gedeckt werden.

Doch Finnland produziert derzeit auch 18 Prozent seines Stroms aus Wasserkraft und 9 Prozent aus anderen erneuerbaren Quellen, speziell Biomasse. Helsinki hat sich gegenüber der EU verpflichtet, den Anteil erneuerbarer Energiequellen am Strommix bis 2020 von jetzt 27 auf 38 Prozent zu steigern. Der Stromverbrauch müsste sich binnen 10 Jahren fast verdoppeln, um den Strom aus diesen Quellen sowie den neuen Atomstrom im Inland absetzen zu können.

Doch seit einigen Jahren stagniert die Stromnachfrage, ein Sinken zeichnet sich ab. Energieintensive Industrien wie die Papierindustrie verlagern immer größere Teile ihrer Produktion auf die neuen Absatzmärkte in Asien oder in billigere südamerikanische Rohstoffländer. Und es ist nicht ersichtlich, dass sich andere Industrien in Finnland neu ansiedeln könnten.

Auch die 3 Prozent seines jährlichen Strombedarfs, die Finnland derzeit aus Russland importiert, dienen den Atomkraftbefürwortern als Argument, neue Reaktoren zu bauen. Ob zwei, drei oder fünf neue Reaktoren: Dieser Import werde damit nicht aufhören, stellten kürzlich Sachverständige des staatlichen technischen Forschungszentrums VTT fest. In Zeiten, in denen es Preisspitzen auf dem gemeinsamen nordischen Strommarkt gibt, sei es für Stromhändler nun einmal lohnend, russischen Strom dazuzukaufen.

Um die KritikerInnen ruhigzustellen, hatte die finnische Regierung schon 2001 zusammen mit dem damaligen Olkiluoto-Neubau-Beschluss ein ehrgeiziges Investitionsprogramm für erneuerbare Energien verkündet. Fast zehn Jahre danach ist davon so gut wie nichts verwirklicht. Die Windkraft macht trotz der günstigen meteorologischen und geografischen Bedingungen gerade einmal 0,3 Prozent der finnischen Stromproduktion aus. Kein Wunder, meint Greenpeace: Die Atomkraft sei ein Kuckucksei. Sie verdränge erneuerbare Energiequellen. Und das – angesichts der technischen Lebenslänge neuer Reaktoren – womöglich gleich für ein halbes Jahrhundert.