Superstars und glückliche Väter

Dieselbe Prozedur beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen wie jedes Jahr: Rituale, Trends, Texte, Fernsehen. Die Jury wurde allen gerecht – bis auf Clemens Meyer, der den besten Text vorlas, aber leer ausging

Klagenfurt: Mythen, Rituale

Der Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ist eine Institution. Unwankbar, untötbar. Mit zum Wettbewerb und seiner Folklore – Baden im Wörthersee, Essen im See- und Literaturbetriebsverklumpungsrestaurant Maria Loreto – gehört die alljährliche Kritik am Wettbewerb. Jedes Jahr fordert irgendwer, den Wettbewerb abzuschaffen, jedes Jahr wird darauf hingewiesen, wie wichtig er ist: für den ORF, Klagenfurt, die Literatur. Das Klagenfurt-Bashing selbst ist wettbewerbs- und institutionskonstituierend. Ernsthaft in Gefahr ist der Wettbewerb erst, wenn kein Mensch mehr seine Abschaffung fordert. Wenn achselzuckend hingenommen wird, dass sich der Literaturbetrieb hier selbst feiert, dass die Strahlkraft sich auf den Betrieb beschränkt, dass hier keine Kehlmanns produziert werden. Dieses Jahr war gefährlich: Viele Texte waren gut und abwechslungsreich; ein guter Jahrgang mit einer untypischen, nicht unverdienten Siegerin. Die Jury, wenn gleich etwas matt wirkend, leistete solide Arbeit, das Wetter war blendend. Wer will da meckern?

Trends

Gab es keine, wie so oft. Der blutarme, typische Klagenfurter „Ich bin ein Mädchen und komme in der Welt nicht zurecht, will aber Kunst machen“-Text ist passé – die „Reife Frauen machen Kunst“-Texte regieren, die „Männer wollen das pralle Leben“-Texte. Also: Bedrückendes aus der Eifel, die Arbeitswelt von unten und weiter oben, viel Vaterschaftsbejahung, Fischköderanfertigung und Aquarisches, sogar Experimentelles: Bodo Hell las, bewehrt mit einer Maultrommel, einen anarchisch-präzisen Sprachmischmasch, der Spaß machte, aber schnell ermüdete. Am Ende fragte man sich: so what? Dass wir mit Sprachmüll eingedeckt werden, wissen wir. Muss ihn uns noch jemand trennen und arrangieren? Die Jury aber hatte Lust auf Neues, Anarchisches. Sie zeichnete mit Passig eine im herkömmlichen Literaturbetrieb Unbekannte mit deutlicher Mehrheit aus und gab Hell den zweiten Preis. Danach waren acht weitere Texte in der Auswahl und mehrere Stichwahlen nötig, um Norbert Scheuer für seinen Eifel-Text und Angelika Overath für ihren kunstvollen Spiegel-Reflexions-Text „Das Aquarium“ als 3sat- und Ernst-Willner-Preisgewinner zu finden.

Clemens Meyer

War eine Art Superstar, nachdem er auf der Leipziger Buchmesse mit seinem Debütroman „Als wir träumten“ für Furore gesorgt hatte. Von so viel medialer Wertschätzung, wie sie Meyer zuletzt erfuhr, können die Overaths und Scheuers dieser Welt nur träumen. Logisch, dass die Welt am Sonntag eigens eine Clemens-Meyer-Reporterin nach Klagenfurt schickte. Meyer war nervös – vor seiner Lesung schüttete er zu viel Wasser in sein Glas. Moderator Ernst A. Grandits reichte ihm ein Taschentuch, damit er Tisch und Manuskript trocken bekam. Vielleicht fühlte Meyer sich unwohl in seinem hellblauen Hemd und dem dunklen Sakko. Wenn er sich bislang nicht inszeniert hatte, so tat er es jetzt, um den Vorwurf, sich zu inszenieren, zu unterlaufen und nicht für alle Ewigkeit als Klassenkämpfer und Betriebsaußenseiter dazustehen. Sein Text über einen Boxer und dessen Leidensgenossen im Gefängnis war große Klasse. Der beste Text dieses Jahr. In Meyer steckt viel literarisches Potenzial, die klassische Short-Story amerikanischen Zuschnitts beherrscht er perfekt. Zu perfekt für die Jury, die den Hut zog, aber zu viel Sentimentalität entdeckte und Meyer unverdientermaßen leer ausgehen ließ.

Die Jury

War grundsolide, routiniert, allzu einverstanden mit sich selbst. Sie wurde allen im höchsten Maß gerecht (bis auf Meyer) und bemühte sich, nicht in MRR- oder Elke-Heidenreich-Dimensionen vorzustoßen. Man wünschte sich mehr Erregung, mehr Schärfe, ja mehr Emphase, mehr schnelles Wegwischen, mehr flotte Verrisse. Selbst Iris Radisch, sonst mit viel Erregungspotenzial ausgestattet, hielt sich zurück, auch die Frotzeleien von Klaus Nüchtern wirkten angestrengt-zurückgenommen. So sorgte ausgerechnet der spröde Musil-Experte Karl Corino für Drive und Heiterkeit. Corino hatte viel recherchiert, glänzte mit Zitaten aus der Weltliteratur (natürlich war Musil mehrmals dabei) und geizte nicht mit trockenen Sprüchen. Als Ursula März einmal biblische Motive erkannte und auf Nachfrage erklärte, das Dunklerwerden der Welt sei so eines, da antwortete Corino: „Es wird doch jeden Abend dunkel.“

Das Fernsehen

Literatur und Fernsehen, das ist ein Dauerproblem. Das Klagenfurter Wettlesen ist Antifernsehen, wenn es vier Tage live auf 3sat übertragen wird. Die Übertragung erinnert an die Fernsehformate von Alexander Kluge, sie streut Sand in den Fernsehbetrieb, verlangsamt ihn: halbstündige Lesungen, genauso lange, unmoderierte Textexegese. Früher hieß es, die Live-Übertragung erzeuge eine andere Art von Literatur, verleite die Autoren, sich zu inszenieren. Inzwischen, da klar ist, dass niemand zuschaut, ist alles enorm unspektakulär: Bloß keinen Fehler machen ist die Devise. Rainald Goetz (Blut!) oder Hermann Burger (Maniker!) sind fernsehlose Vergangenheit. Klagenfurt 2006, das war Unauffälligkeit im Sommer-Look. Dankbar war man, als Klaus Nüchtern einmal einen Hut auf sein Tischchen legte und damit – in Klagenfurt ist alles Zitat – den für seine Hutkollektion berühmten Kollegen Spinnen zitierte. Am Nachmittag hatte Spinnen wieder einen Hut vor sich liegen.

GERRIT BARTELS