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: Der stoische Christbaum

„Konter sind unser Markenzeichen“, sagt Brasiliens Superstar Kaká. Zu Recht, denn das können sie wie kaum jemand sonst: mit wenigen, schnellen Pässen das Spielfeld in höchstem Tempo überqueren, in perfekt harmonisierten Laufwegen die künstlerische Skizze eines Angriffs auf den Platz werfen, den Ball eng am Fuß, das übernächste Abspiel bereits im Blick. Wenn Kaká, Robinho, Luis Fabiano und Co die Tiefe des Raums vor sich haben, dann bleibt dieser Raum selten ein leeres Versprechen. Er wird genutzt, und dabei entstehen Tore, wie im Achtelfinale gegen Chile, als die oben Genannten die gegnerischen Reihen einmal mit feinen Pässen regelrecht sezierten und Ramires sie später durchglitt wie ein heißes Messer ein halbes Pfund Butter.

Was aber, wenn kein Platz zum Kontern da ist, wenn der Gegner sich zurück- und zusammenzieht, wenn es keine Räume zu füllen gibt, sondern man sie öffnen muss? Dann verharrte die Seleção bisher zumeist in Bewegungsarmut, schob die Außenverteidiger statisch nach vorne und setzte auf Standards, Fernschüsse und gegnerische Stellungsfehler. Mit stoischer Ruhe wurde das eigene Führungstor abgewartet, bloß nicht die Ordnung stören, das war und ist die Devise von Trainer Carlos Dunga. Die fixe Idee des bedingungslos offensiven „jogo bonito“ meidet der Mann bekanntlich wie der Teufel das Weihwasser, und wer ihn damit konfrontiert, den straft er mit scharfen Blicken und kalter Ignoranz.

Nein, er wird auch im Viertelfinale gegen Holland nichts an jener robusten 4-3-2-1-Formation ändern, die man in Italien „albero di Natale“ – Weihnachtsbaum – nennt. Dungas Angst vor einem Rückstand scheint so groß, dass man ihm sogar den ewigen Leitsatz des italienischen Fußball-Pragmatismus anheften möchte: „Prima non prendere“ – erst mal keinen reinbekommen. Bei diesem Vorhaben kann er auf eine grandiose Abwehr vertrauen. Die Viererkette um die beiden Innenverteidiger Lúcio und Juan ist ebenso Weltklasse wie Torwart Julio Cesar und ließ sich bisher nur dann überwinden, wenn das Spiel bereits zugunsten der Brasilianer entschieden war. Viele Geschenke sind am Fuße dieses Baums für die Holländer wahrlich nicht zu erwarten.

Einzige Schwachstelle in der Defensive des Rekordweltmeisters könnte Michel Bastos sein, der auf der für ihn ungewohnten Position des linken Verteidigers auf Arjen Robben treffen wird. Er wird die Erfahrung von Lúcio, Maicon und Cesar gebrauchen können, die sich dem schnellen Holländer bereits in der Champions League mit Inter Mailand erfolgreich in den Weg gestellt haben. Und auch Trainer Dunga wird auf ihre Ratschläge hören, damit am Ende vielleicht kein „jogo bonito“ steht, aber doch der Einzug ins Halbfinale.

DOMINIK WEHGARTNER