„Normal ist diese WM nicht“

ARGENTINIEN Der Soziologe Pablo Alabarces über Fußball, kultursoziologische Steilpässe und die Erfindung der argentinischen Nation

■ geboren 1961. Der Soziologe und Philosoph lehrt an der Universidad de Buenos Aires. In seinem Buch „Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation“ verbindet er die politische Geschichte Argentiniens mit der des Fußballs (Edition Suhrkamp 2010).

INTERVIEW TOBIAS MOORSTEDT

taz: Herr Alabarces, mit welchen Gefühlen blickt Argentinien zur WM?

Pablo Alabarces: Die Wochen vor dem Turnier waren wie immer die Zeit eines ungetrübten Optimismus. Erst wenn der Ball rollt, zerplatzen langsam die Träume. Argentinien ist schließlich seit 20 Jahren nicht mehr über das Viertelfinale einer WM hinausgekommen, aber bisher sind die Zeitungen und die Fans recht enthusiastisch.

Und der Trainer heißt Diego Armando Maradona.

Seine Beteiligung ist eine Garantie dafür, dass etwas Besonderes passiert, etwas Großes oder Schreckliches. Normal ist diese WM nicht. Dieses Gefühl spiegelt sich auch in den Produkten der Kulturindustrie wider: Im Fernsehen läuft zum Beispiel ein Werbespot der Brauerei Quilmes, der Gott als argentinischen Fußballfan zeigt, der alle Menschen auffordert, für die Albiceleste zu beten.

Ausgerechnet der Junkie und Steuerhinterzieher Maradona wurde Nationaltrainer. Darüber waren nicht wenige erstaunt.

Maradona ist kein Taktiker, sondern ein Erratiker, er hat bislang viele Systeme und mehr als 100 Spieler ausprobiert und sich nur äußerst knapp für die WM qualifiziert. Aber es war vermutlich unausweichlich, dass er einmal Trainer würde. Die Ernennung zum Nationaltrainer ist der Versuch, die unerträgliche Leere zu füllen, die seit seinem Rücktritt in unserer nationalen Aufstellung klafft.

Sie schreiben über „Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation“. Was hat Sport mit Nation-Building zu tun?

Die argentinische Gesellschaft war permanent auf der Suche nach Symbolen für Argentinität – immer in Anlehnung oder Abgrenzung zu Europa. Deshalb ist der Gaucho so eine wichtige Figur, der freie Mann, der das Land auf dem Rücken seines Pferdes durchmisst. In den 1920er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts kamen Millionen europäischer Einwanderer ins Land, und die Fußballnationalmannschaft war ein passendes Symbol für diese Melting-Pot-Gesellschaft. In der Mannschaft, die 1928 bei den Olympischen Spielen und 1930 bei der Fußball-WM jeweils den zweiten Platz belegte, spielten Italiener, Kreolen und Spanier. Wichtig war aber auch: Wir mussten unser eigenes Spiel erfinden.

Was meinen Sie damit?

Fußball war im 19. Jahrhundert ein englisches Exportprodukt. 1891 wurde die Argentine Association Football League gegründet. Erst Jahre später entwickelte sich die Idee eines kreolischen Spiels, das taktische Elemente mit originellen Einzelpraktiken kombiniert. Zentrale Figur ist der „pibe“, der Bursche, der auf dem Bolzplatz groß geworden ist, ein kreativer Spieler, frei von der einschränkenden Disziplin der Europäer. Dass die Engländer im Fußball als Todfeinde der Argentinier gelten, liegt nicht nur an den Falkland-Kriegen oder dem umstrittenen Tor von Maradona im Halbfinale von 1986, sondern es hat auch psychologische Gründe: England ist der Vater des Spiels, der Erfinder und Meister. Nur wenn wir England auf unsere Art und Weise besiegen, entwickeln wir ein eigenes Ich.

„Der Fußball funktioniert heute ähnlich autoritär wie die Schule“

Und welche Rolle spielt der Fußball heute?

Eine größere als je zuvor. Er wirkt als Kulturmaschine, die bestimmte Werte vermittelt. Traditionellerweise wird diese Rolle von den Schulen eingenommen, von den Gewerkschaften, der Politik oder der Avantgarde. Diese Institutionen sind in den vergangenen Jahren verkommen und unbedeutend geworden. Der Fußball funktioniert heute aufgrund seiner medialen Allgegenwart und seiner Macht, nationale Bedeutungen zu transportieren, auf ähnlich autoritäre Weise wie die Schule. Der Fußball ist, wie meine Kollegin Beatriz Sarlo sagt, „der Klebstoff der Nation“.

Ziemlich große Aufgabe für einen Sport.

Ja. Klar ist auch: Wenn der Fußball die letzte Säule der Gemeinschaft ist, dann ist es eine schwache Gemeinschaft. Ich bin sehr skeptisch, ob Fußball wirklich eine nachhaltige Entwicklung anstoßen kann. Nehmen Sie das Beispiel der WM 1998 in Frankreich. Nach dem Sieg von Zidane, Laurent Blanc und Marcel Desailly sprach alle Welt davon, dass im Stade de France ein demokratisches, pluralistisches und multiethnisches Frankreich geboren worden sei. Sechs Jahre später brannten die Banlieues, und les Bleus haben bei dieser WM ein schreckliches Bild abgeliefert. Der Fußball liefert uns manchmal Mythen, in denen wir uns selbst zu erkennen glauben. Am Ende ist das alles aber nur Gerede. Entscheidend ist, was eine Gesellschaft abseits des Fußballplatzes unternimmt.