Mit Halal Dating in ein neues Zeitalter

SPIRITUELLE MUTATION Olivier Roy zeigt in „Heilige Einfalt“ die Auswirkungen des Fundamentalismus auf die Gemeinschaft der Gläubigen und der Ungläubigen

Die Inszenierung des „reinen“ Religiösen verwirrt oder zerreißt das Band von Kultur und Religion

VON MICHAEL KIEFER

Wenn in den vergangenen Jahren über die fundamentalistische Entwicklung von Religion diskutiert wurde, ging es zumeist um die diversen Spielarten des Islamismus. Im Eifer der Debatten wurde jedoch übersehen, dass der Fundamentalismus und die von ihm ausgehenden Gefahren für eine liberale Gesellschaft kein exklusives Islamproblem darstellen.

Der renommierte französische Islamwissenschaftler Olivier Roy zeigt in seinem neuesten Buch „Heilige Einfalt“, dass der Vormarsch fundamentalistischer Religionen jedweder Couleur ein globales Phänomen darstellt. Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht. Bereits Habermas hat vor einigen Jahren von der „Wiederkehr der Religiösen“ gesprochen und darauf hingewiesen, dass diese mit einer verstärkten Missionstätigkeit, einer Fundamentalisierung und einer Instrumentalisierung der Gewaltpotenziale einhergeht.

Roy jedoch reformuliert die Habermas’sche Grundthese mit einer wichtigen Modifikation. Es müsse nicht von einer Wiederkehr des Religiösen, sondern von einer Mutation beziehungsweise radikalen Neuformierung des Religiösen ausgegangen werden.

Nach Roy befinden wir uns in einem historischen Übergangsprozess: Die traditionellen Formen des Religiösen wie der Katholizismus, der muslimische Hanafismus und die klassischen protestantischen Bekenntnisse mutieren zu fundamentalistischen Formen der Religiosität (Evangelikalismus, Pfingstlertum, Salafismus und so weiter). Betroffen seien nicht nur monotheistische Religionen, auch bildeten beispielsweise der Buddhismus und der politische Hinduismus der indischen BJP neue Formen von Religiosität.

Cyber-Fatwa

Allen Mutationen gemeinsam sei, dass sie eine größere Sichtbarkeit im öffentlichen Raum anstreben und oftmals einen Bruch mit den herrschenden Praktiken und Kulturen herbeiführten. „Das Religiöse stellt sich als solches zur Schau und will nicht länger auf den Status eines symbolischen Systems neben anderen reduziert werden.“

Das Verhältnis von öffentlichem Raum und Religion ist nach Roy erheblichen Veränderungen unterworfen. Die „Rückkehr“ der Religion erfolge nicht mehr „in Form einer kulturellen Selbstverständlichkeit“, sondern als Inszenierung des „reinen“ Religiösen, die das Band von Kultur und Religion „verwirrt“ oder gar zerreißt. Roy macht hierfür die umfassende „Dekulturierung“ von Religion verantwortlich.

Lange Zeit sei Religion eng mit der jeweiligen Regionalkultur verbunden gewesen. Das Christentum habe maßgeblich zur Entwicklung des Westens, der Islam zu der des arabischen Kulturraums beigetragen. Heute jedoch zirkuliere das „Religiöse“ außerhalb der Ursprungskultur. Die heiligen Texte (Bibel, Koran und so weiter) würden außerhalb jedes kulturellen Zusammenhangs „wortwörtlich“ zum Sprechen gebracht. Religiosität werde hierdurch karger, kompromissloser, auf sich selbst bezogen. Zugleich sei in der heutigen, globalisierten Welt Religion auch mit allem vermischbar: Halal Fastfood, koschere Biokost, Cyber-Fatwa, Halal Dating, Cristlicher Rock.

Diese „Dekulturierung“ schaffe eine Barriere zwischen den Gläubigen und Ungläubigen. In den Augen der Gläubigen gehörten die „Lauen, die Abgekühlten, all jene, die keine zweite Konversion als Wiedergeborene erlebt haben“, zur profanen Welt. Umgekehrt – und dies lehrt die Islamdebatte zur Genüge – erscheine der Gläubige dem Ungläubigen seltsam und fanatisch. Dieser Prozess führe zum Verlust der sozialen Selbstverständlichkeit des Religiösen. Die Gläubigen würden sich als Minderheit empfinden, umzingelt „von einer profanen, atheistischen, pornografischen, materialistischen Kultur, die sich falsche Götter gewählt hat“.

Distanzierte Konvertiten

Im Mittelpunkt der Trennung von Religiösem und Kulturellem steht für Roy die Konversion, die immer mehr dafür sorge, dass es keine „automatische Verbindung“ zwischen Religion und Kultur gäbe. Konversionen seien die Grundlage der raschen Ausbreitung neuer religiöser Strömungen, die an den Rändern der traditionellen Religionen entstünden. Konvertiten gingen oft auf Distanz zur jeweiligen Umgebungskultur, die als viel zu säkular wahrgenommen werde.

Über die Konversion von Christen zum Islam ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. In der Regel profitieren hiervon in erster Linie islamistische Strömungen. Zu nennen sind die Salafisten, die Tablighis sowie sufistische Gruppierungen. Hochproblematisch ist der Anteil von Konvertiten in den ultramilitanten Strömungen des Islamismus.

Allein der Konvertitenanteil unter den internationalen Mitgliedern der al-Qaida wird auf bis zu 20 Prozent geschätzt. Wenig bekannt ist, dass auch zigtausende Muslime in islamischen Ländern zum Christentum konvertierten, wozu Roy zahlreiche Belege anführt.

Olivier Roy analysiert die neue Religiosität präzise. Seine Ergebnisse müssen beunruhigen. Religion in der globalisierten Welt wird zunehmend zu einer individuellen Angelegenheit. Das Religiöse ordnet sich neu und befördert eine antiintellektuelle Haltung, die einen unmittelbaren, gefühlsbetonten Zugang zum Heiligen sucht. Der Fundamentalismus ist auf dem Vormarsch, und es ist zu befürchten, dass die „Heilige Einfalt“ eine große Zukunft vor sich hat.

Olivier Roy: „Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer. Siedler, München 2010, 336 Seiten, 22,95 Euro