Medium mit höherer Halbwertzeit

TAKSIM Als die Proteste im Istanbuler Gezipark begannen, wohnte der deutsche Fotograf Frederic Lezmi kaum hundert Meter entfernt. Seine Fotos, kombiniert mit alten Aufnahmen, hat er nun als Poster drucken lassen und vertreibt sie als Magazin für die Bewegung

Vor allem aber sollen die Bilder zurück in die Bewegung finden

VON MARKUS WECKESSER

Nach seiner Räumung glich der Taksimplatz im Herzen von Istanbul einem Schlachtfeld. Ende Mai letzten Jahres knüppelte die Polizei im Morgengrauen auf Menschen ein, die seit Tagen friedlich gegen die Politik der Regierungspartei demonstriert hatten. Bis in die Wohnung von Frederic Lezmi zogen die giftigen Schwaden der Tränengasgeschosse, die die Miliz abfeuerte. Der deutsche Fotograf wohnt kaum hundert Meter vom Gezipark entfernt, wo die Proteste begannen. Als neutraler Beobachter und Bildreporter arbeitete Lezmi vor und hinter den Barrikaden. Doch nach wenigen Tagen ließ er seine Profiausrüstung zu Hause. Sie machte ihn verdächtig und brachte ihn in Gefahr.

Einerseits versuchte die Polizei zu verhindern, dass unabhängige Journalisten ihr brutales Vorgehen dokumentieren, andererseits fürchteten die Demonstranten zivile Spitzel. Darum fotografierte Frederic Lezmi nur noch mit der Handykamera. Verstärkt wird die flüchtige Wahrnehmung des Augenblicks und die spannungsgeladene Atmosphäre seiner Bilder durch das Polaroidformat. Selbst Fotos von unbesetzten Barrikaden oder menschenleeren Straßenecken vermitteln den Eindruck, jeden Augenblick könnten fliehende Demonstranten oder prügelnde Polizisten ins Bild laufen. Dabei verzichtete Lezmi auf Bilder von Kampfszenen, verletzten Menschen oder brennenden Autos. Gleichwohl zeigt er die Spuren von Gewalt auf dem Platz und in den umliegenden Straßen.

Während sich die Demonstranten mit dünnen Tüchern, Atemmasken und Schwimmbrillen vor Tränengas schützten, legte die Miliz Helme und Gasmasken an. Auf einem Foto haben die Polizisten ihren Schutz vom Gesicht genommen, und man sieht, wie jung die Einsatzkräfte sind. Ohne Uniform könnten sie ebenso gut auf der anderen Seite der Auseinandersetzungen stehen. Solche Momente des kurzen Innehaltens fotografierte Frederic Lezmi auch unter ihren Gegnern. Erschöpft, aber vorsichtshalber weiter vermummt, ruhen die erschöpften Demonstranten, wo sie sich gerade sicher fühlen.

Um sich zu organisieren, nutzten die Menschen in Istanbul, wie bereits zuvor die Demonstranten des Arabischen Frühlings, die sozialen Netzwerke. Als dauerhafte Speicher der Erinnerung taugen Dienste wie Twitter oder Tumblr allerdings nicht. Mit jedem neuen Eintrag rutschen die Posts der Monate Mai und Juni ein Stück weiter ins Vergessen. Stattdessen suchte Frederic Lezmi ein Medium mit höherer Halbwertzeit. Poster versprachen viele Vorteile. Sie unterliegen nicht der Zensurpflicht und man kann sie langfristig archivieren, tauschen und aufhängen. Wie eine Zeitung sind die fünf großen Posterbögen von „Taksim Calling“ lose ineinandergelegt, was unweigerlich an das Versagen türkischer Medienhäuser erinnert, die aus Furcht vor staatlichen Repressionen nur einseitig oder gar nicht über die Ereignisse auf dem Taksimplatz berichteten.

Jeweils eine Seite der Poster bedruckte Frederic Lezmi mit seinen Handy-Polaroids vom Taksimplatz. Für die andere wählte er historische Ansichten, die eine scheinbar heile Welt zeigen. Denn weder die schwarz-weißen Archivaufnahmen aus den Dreißigern noch die bunten Postkarten aus den Sechzigern lassen erahnen, dass der Platz traditionell für Demonstrationen genutzt wurde und bereits mehrmals Ort blutiger Ausschreitungen war. Einmal mehr manifestiert sich am Taksimplatz das gesellschaftspolitische Dilemma, wie die Türkei zukünftig mit Atatürks Erbe umgeht. Den Status quo versinnbildlichen Lezmis Fotos von Wegweisern zum Taksim: Sie zeigen alle in unterschiedliche Richtungen. Einstweilen bestimmt Ministerpräsident Erdogan die Marschroute. Nachdem er Platz und Park hatte räumen lassen, rückten Arbeiterkolonnen an und übermalten die Graffitis und Parolen der Demonstranten. Einschließlich der Friedenszeichen.

Ursprünglich wollte Frederic Lezmi seine Posterzeitung kostenlos verteilen. Inzwischen ist es klüger, die Veröffentlichung im eigenen Netzwerk zu verschenken und gratis in kleinen Teestuben, Buchhandlungen und Galerien auszulegen. Nur ein kleiner Teil wird in Deutschland verkauft, um die Druckkosten zu finanzieren. Schließlich geht es um ökologische, städtebauliche und bürgerrechtliche Anliegen, die in vergleichbarer Form auch hier diskutiert werden. Vor allem aber sollen die Bilder zurück in die Bewegung finden. Sie sollen die Beteiligten an jene Zeit erinnern, als sie die Idee von einer teilnehmenden Zivilgesellschaft einte.

■  Frederic Lezmi: „Taksim Calling“. Sunday Books 2013, 15 Euro, erhältlich bei Café Lehmitz Photobooks und White Press