Ist Maradona Argentinien peinlich?

Diego Maradona (Foto), Kapitän der Weltmeisterelf von 1986, sitzt auf den WM-Tribünen, krakeelt, raucht Zigarren und umarmt im Nationaltrikot die Anzugträger dieser Welt: Ist das den Argentiniern peinlich? Nein, gar nicht, sagt der argentinische Fußballexperte Ariel Scher (Clarin).

In Buenos Aires, wo der Fußball so wesentlich ist wie die allgegenwärtige Feuchtigkeit und der Nachhall eines Tangos, ruft ein Freund seit 15 Jahren zweimal am Tag einen anderen Freund an. Sie sprechen über ihren Alltag, ihre Familien, von irgendeinem neuen Projekt, und – ohne es zu beabsichtigen – von Diego Maradona.

 Im ersten Gespräch des Tages macht der Freund, der anruft, seinem Unmut gegen den früheren Fußballer Luft. Er nimmt ihm ein paar Sprüche übel, ein paar öffentliche Auftritte und dass er ein paarmal von der Bildfläche verschwunden ist. Im zweiten Plausch nimmt derselbe Freund alle seine Vorbehalte gegen Maradona wieder zurück, vergibt ihm alles, wofür er ihm ein paar Stunden vorher nicht vergab, und ruft vor lauter Glück eine oder zwei der besten Aktionen dieses Mannes in Erinnerung, der die Bälle gespielt hat wie kein anderer. Viele Freunde wissen, dass sich in diesen zwei Anrufen die beiden stärksten Beziehungen ausdrücken, die die argentinische Gesellschaft mit Maradona hat: die erste ist, alles von ihm zu erwarten. Die zweite ist, ihm alles zu vergeben.

 Selbstverständlich sind diese beiden Beziehungen nur möglich, weil es ein drittes Band zwischen den Argentiniern und Maradona gibt, das sich weitaus leichter wahrnehmen lässt: in der Kritik oder in der Akzeptanz – immer ist er ein beliebtes Idol.

 Es versteht sich von selbst: Argentinien ist ein Land mit allzu instabilen Freuden, weil die Erinnerungen an die sportlichen Heldentaten von Maradona niemals nur Freude bedeuten.

 Wenn sich also die Frage stellt, wie man zu Hause sein Auftreten auf den Tribünen der WM-Stadien empfindet? Das wird in Argentinien generell mit vollkommener Selbstverständlichkeit aufgenommen.

 Als er nicht an der Parade der Champions bei der Einweihungsfeier der Meisterschaft teilnahm, war man stark frustriert. Das Argument war, es gebe Millionen von Menschen, die ihn gerne bei dieser Ehrung sehen würden; als er kurz darauf mit großem Brimborium die argentinischen Auswahl im Trainingslager besuchte, applaudierte man ihm für diese edle Geste. Praktisch jeder Argentinier nimmt an – denke er, wie er denke, und wisse er, was er wisse –, dass Maradona ein Spezialist darin ist, andere zu erstaunen: durch sein erstaunliches Talent und die Unvorhersehbarkeit seines Schicksals.

 Jorge Valdano wurde mit Maradona 1986 Weltmeister und kennt ihn seit langem, hat aber nie die Fähigkeit verloren, von diesem überrascht zu sein. Er hat dieser einzigartigen Persönlichkeit gedacht wie vielleicht niemand: „In der Gesellschaft der Bilder verwandelte sich Maradona in eine universelle Persönlichkeit, die für dumm verkauft (wenn sein Leben eine Märchengeschichte ist) und für schlecht verkauft (wenn sein Leben in ein dunkles Loch fällt). Was könnte die Sensationsindustrie mehr wollen als eine Persönlichkeit, die man lieben und die man hassen kann, die intelligente Dinge sagt und auch hoffnungslose, die heute dick ist und morgen dünn, die heute stirbt und morgen aufersteht!“

 Brillant wie üblich schreibt Valdano dies, weil er intelligent ist. Aber er ist auch Argentinier, und als solcher kennt und fühlt er die guten und die schlechten Dinge, die Diego Maradona provoziert. Genauso kennen und fühlen das die beiden Freunde, die sich jeden Tag zweimal anrufen. Genau in diesem Moment telefonieren sie wieder. Es steht außer Frage, dass sie über Maradona sprechen. ARIEL SCHER