Die Verdammten muss er uns zeigen

FESTIVAL D’AVIGNON Ein Auftrag, den er nicht ablehnen konnte: Christoph Marthaler über Proben im Papstpalast, Touristen und Arme in Avignon. Mit „Papperlapapp“ eröffnet er heute das Festival

Er hasse Mikroports, sagt Marthaler – aber wenn sie schon mal da sind, kann man auch mit ihnen spielen

VON ANDREAS KLAEUI

Auf den ersten Blick passen sie schlecht zusammen: Marthaler und Avignon. Christoph Marthaler, der Regiemeister vor sich hin brütender Verdammter in verstaubten Warteräumen, in denen es keine Öffnung gibt außer vielleicht in der Musik. Und Avignon, das Festival, das seit 1947 von der frischen Luft lebt, vom Schauspielerlebnis draußen unterm hohen Provencehimmel und den Sternen, im Mistral, der durch den Renaissancehof des Papstpalasts fegt.

„Ich finde Freilichttheater eigentlich etwas Schreckliches“, sagt Christoph Marthaler. Aber als die Festivalleiter Hortense Archambault und Vincent Baudriller ihn so weit hatten, zusammen mit dem Schriftsteller Olivier Cadiot als artiste associé zu wirken, als beratender Gastkünstler der diesjährigen Ausgabe („einfach weil sie so freundliche Menschen sind“) – da war jedenfalls eines klar: Er muss die Eröffnung in der Cour d’Honneur des Papstpalasts inszenieren.

Er hat dann noch ein bisschen zu tricksen versucht und Anna Viebrock ins Spiel gebracht – natürlich muss bei einem derartigen Unternehmen seine wichtige Bühnenbildnerin und Wegbegleiterin fast zwingend dabei sein. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Freilicht was machen will. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen sie aber durchaus“, sagt er lachend. Die grandiose Idee, die sie zunächst hatte, ließ sich allerdings nicht umsetzen: der Hof im Papstpalast von oben bis unten (und die Wände sind hoch) mit Retromuster tapeziert! Der Papstpalast gehört zum Weltkulturerbe, beim Ablösen der Tapeten wäre womöglich die jahrhundertealte historische Patina mitgekommen.

Es wird nun, wenn heute Abend um zehn die Trompetenfanfare von Maurice Jarre das Publikum zur Premiere ruft, eine Bühne sein, die mit dem Ort spielt und aus dem Ort heraus gedacht ist, kein Bühnenraum, der hineingestellt wurde. „Papperlapapp“, das den „Pape“, wenn nicht das „Palais des papes“ schon verballhornt im Titel führt, soll ein Theater werden, das nur hier stattfinden kann (und deshalb auch nicht als Koproduktion herauskommt, wie es in den letzten Jahren auch in Avignon üblich wurde).

„Hier inszenieren ist wie Jetlag: Wir können nur nachts proben, wegen der Hitze, aber auch wegen der Dunkelheit, und natürlich wegen der Touristen“, sagt Marthaler. Tagsüber folgt hier eine Führung der anderen. Und mit einer Führung wird der Abend (wohl) beginnen, mit Graham F. Valentine als blindem Guide. Ein Wort fällt im Gespräch, das für „Papperlapapp“ vielleicht zum Schlüsselbegriff wird: Rückkopplung. Freilichttheater hat seine besonderen Bedingungen, dazu gehört die Verstärkung über Mikroport. „Ich hasse Mikroports“, gesteht Marthaler freimütig – aber wenn sie schon mal da sind, kann man geradeso gut mit ihnen spielen. Sie zum Mittel der Inszenierung machen, gleichsam musikalisch einsetzen oder auch einmal präzis rückkoppeln. Als aufschreckende Metapher für ein dramaturgisches Prinzip: die auch inhaltlich gedachte Rückkopplung an den Ort und seinen Geist.

Marthalers Produktionen sind, das unterscheidet ihn von den meisten anderen Regisseuren, immer mit dem Ort verbunden, an dem sie entstehen. „Ich kann gar nichts anderes machen, ich muss das zeigen und herausarbeiten, was der Ort anbietet, an dem wir sind“, sagt er. In diesem Fall ist das Avignon, die Stadt und die päpstliche Festung: „Man könnte nun natürlich die katholische Kirche zum Thema machen und all das, was da zurzeit abläuft – aber das wäre platt.“

Den religiösen Aspekt handelt Marthaler auf seine ureigene Weise ab: in Musik. Da wird man Madrigale aus der Zeit der Päpste hören, von Gesualdo oder Palestrina, die den Raum noch von den obersten Zinnen her zum Schwingen bringen. Der Papstpalast ist von unendlichen Dimensionen, „wir haben längst nicht alles gesehen“, sagt Marthaler. Gespielt werden außerdem Werke der musikalischen Gegenpäpste Wagner und Verdi, „vielleicht zum ersten Mal in Kombination!“ Eine zentrale Rolle aber werde die „gotische Musik“ von Erik Satie spielen, namentlich seine wenig bekannte Armenmesse. Das ist eine „blanke“ Musik, quasi regungslos.

In den Probenwochen, diesen Vor-Festival- und Vor-Saison-Tagen habe er Avignon als erschreckend arme Stadt wahrgenommen, sagt Marthaler. „Die Touristen sind zum Teil schon da, aber auch unglaublich viele arme Menschen, die hier leben oder in die Stadt kommen, um zu arbeiten, als Bettler, darunter extrem aggressive Menschen. Diese Menschen muss ich zeigen: die ‚Verdammten‘, diejenigen, die nicht wissen, wohin und wie weiter. Die muss ich zeigen – auch wenn sie ein Papstkostüm tragen.“

■ Mit „Papperlapapp“ eröffnet das Festival von Avignon heute Abend

■ Arte überträgt die Performance live am 17. Juli aus dem Papstpalast