Das Lob des Wanderarbeiters

„Globalisierung ohne Migration gibt es nicht“, glaubt Karl Schlögel zu Recht

Die meisten Flüchtlinge tauchen, sofern sie die Grenze nicht ordnungsgemäß überquert haben, weder in den Nachrichten noch vor den Augen ihrer künftigen Nachbarn auf. Sie tauchen gleich unter und beginnen ein neues Leben. In den USA sind diese Illegalen so zahlreich geworden, dass sich ausgerechnet ein Law-and-Order-Präsident wie George W. Bush zu ihrer Legalisierung entschlossen hat. Migration ist ein massenhaftes und weltweites Phänomen, und dass Karl Schlögel über sie unter dem Titel „Planet der Nomaden“ schreibt, ist eine kluge Entscheidung. Mithilfe dieser Mischung aus Wüstenromantik und Steven Spielberg könnte seine Lobpreisung des legalen wie des illegalen Grenzüberwinders die habituellen Abwehrreaktionen unterlaufen.

„Globalisierung ohne Migration gibt es nicht“, stellt Schlögel kurz und bündig fest: „Capital flow ohne migration flow ist sinnlos.“ Zu dieser nüchternen Feststellung gehört die Überzeugung, dass sich die Städte – Flüchtlinge ziehen nicht aufs Dorf – wie bisher als „Schulen und Laboratorien der Zivilisierung“ erweisen. Wenn die Welt in den letzten 150 Jahren 50 Millionen Europäer aufnehmen konnte, so Schlögel, dann sollten Europa und die USA mit einer deutlich geringeren Zahl von Flüchtlingen zurechtkommen.

Solch gelassenes Vertrauen auf die Belastungsfähigkeit bereits vorhandener Strukturen und gewachsener Mentalitäten verdankt sich der berufsspezifischen Weitsicht eines Historikers: Schlögel lehrt an der Frankfurter Viadrina Universität osteuropäische Geschichte. Als Historiker, der die Gegenwart beschaut, neigt Schlögel nicht zur Kritik, sondern zur Phänomenologie, und zwar zu einer historisch unterfütterten Breitwandphänomenologie.

Der Essay lässt kaum einen Aspekt der Migration aus: Gründe, Motive, Mentalitäten, kriminelle Helfershelfer, Konjunkturen der Völkerverschiebung im entfesselten Nationalismus des 20. Jahrhunderts, wissenschaftliche Erklärungen aller Art, dazu Zahlen, Zahlen, Zahlen. Das Lob der Displaced Person, des Wanderarbeiters, Flüchtlings, Asylbewerbers, Staatenlosen, Transnationalen, non-documented, Exilanten, Migranten, Emigranten und Immigranten vervollständigt der kurze zweite Essay, „Lob der Grenze“.

Für Schlögel ist die Bewegung durch den Raum das charakteristische Zeichen gesellschaftlichen Lebens. Die Menschheitsgeschichte beginne doch mit der Ausbreitung des Menschen über die ganze Erde. Die Wanderungen heute führen, so Schlögel, zur „Rückgewinnung von Komplexität, Konfliktfähigkeit, Weltläufigkeit“, wie sie vor den Weltkriegen schon einmal in den Vielvölkerstaaten Europas existierten. Die Flüchtlinge seien eine Bereicherung: Sie sind wagemutig, improvisationsfreudig, anpassungsfähig und nicht zuletzt vielsprachig. Doch die Forderung nach offenen Grenzen hält Schlögel für ebenso naiv wie die nach geschlossenen: Die Aufnahmefähigkeit von Gesellschaften sei begrenzt.

So bewundernswert Schlögels enzyklopädische Eloquenz ist – sie lässt seinen Essay zuweilen ausfransen und führt zu Wiederholungen. Zudem hätte er den Text aus dem Jahr 2000 durchaus aktualisieren können. Doch mit diesen kleinen Schwächen versöhnt das Vorwort, in dem Schlögel die Unruhen in der Pariser Banlieue als Äußerungen einer Diaspora liest, die kein Provisorium mehr ist, sondern Dauerzustand.

In Europa lösten sich derzeit beherrschende kulturelle Überzeugungen der Mittelschicht auf, darunter die Hoffnung auf quasi automatische Integration der Zuwanderer. Unaufgeregt verabschiedet Schlögel den Multikulturalismus und plädiert dafür, in der nun eintretenden Unübersichtlichkeit die Augen offen zu halten. Es lohnt, ihm darin zu folgen. JÖRG PLATH

Karl Schlögel: „Planet der Nomaden“. wjs Verlag, Berlin 2006, 150 Seiten, 16 Euro