bücher über fußball, fünfte lieferung
: Schlechtes Gewissen oder Wie einer mit dem Lesen nicht mehr nachkam

Schröder hatte sich das vor der WM so schön vorgestellt. Vier Wochen lang zu Hause bleiben und nichts anderes machen als sich mit Fußball beschäftigen. Er würde morgens die WM-Beilagen der Tageszeitungen lesen, die Spiele alle im Fernsehen anschauen, aber nur die, nicht den ganzen Netzer-Delling-Klopp-Kerner-Meier-Zwischen-den-Halbzeiten-und-Spielen-Quatsch, und die restliche Zeit, vor allem mindestens eine Stunde vor dem Einschlafen: Fußballbücher lesen. Das war sein Plan vor der WM. Doch während der Vorrunde merkte Schröder: Das funktioniert nicht. Allein das Lesen der WM-Beilagen machte ihn fix und fertig. Jeden Tag mindestens fünf, sechs in der Regel sehr lange Texte über die deutsche Fußballnationalmannschaft in den zwei Zeitungen, die er im Abo hatte, das schaffte ihn, zumal die Texte aufgepumpt waren mit unnötig viel WM-Historie. Texte über Klinsmann, Ballack, Frings, die Ergänzungsspieler, über das Zusammenspiel von Klose und Podolski, dann so genannte Analysen von Theweleit und Diederichsen und Thees Ullmann, dann die vielen Kolumnen, die ja der Entspannung dienen sollten, aber Schröder erst recht fertig machten, schließlich der ganze Rest: über Argentinien, England, Holland oder Brasilien, über die Fans, über die wirtschaftlichen und kulturellen Implikationen der WM, ja, selbst über Weißweine, die man zu den Spielen trinken sollte (alles deutsche, der Autor schien sich am neuen deutschen Patriotismus ordentlich besaufen zu wollen).

Jeden Morgen holte Schröder mit schlechtem Gewissen seine beiden Zeitungen hoch und trauerte den nicht gelesenen Artikeln vom Vortag nach. Mit noch mehr schlechtem Gewissen schaute er den Bücherstapel neben seinem Bett an. Bestimmt zwanzig Bücher lagen da, der übliche Anekdoten-und-Fußballer-sind-ganz-schöne-Dummbatze-Kram, aber eben auch Literarisches. Zum Beispiel ein Krimi von Erich Loest, „Der Mörder saß im Wembley-Stadion“, aus den Sechzigerjahren. Zu dieser Zeit lebte Loest noch in der DDR, war gerade aus dem Knast gekommen und sollte leichte, aber antiimperialistische Ware produzieren. Erich Loest schrieb also einen Krimi, der in London zur Zeit der Fußball-WM 1966 spielt und dessen Lokalkolorit er sich aus Büchern wie „London für Anfänger“ oder einem Buch über die englische Küche zusammenstoppelte.

Ein Dokument, sicher, nur wusste Schröder nicht mal mehr, ob er das Buch angefangen und wieder weggelegt oder sogar ausgelesen hatte. Ganz oben auf dem Stapel lag gerade ein Suhrkamp-Band, in dem der junge ungarische Autor László Darvasi seine Weltgeschichte des Fußballs erzählt. Schröder hatte in der Nacht zuvor darin geblättert, doch kaum was verstanden. Darvasi dreht zum Beispiel das 54er-Endspiel um, lässt die Ungarn Weltmeister werden und erzählt dann, was aus beiden Ländern wurde, „im Oktober 1956 brach in Deutschland die Revolution aus“, „1990 eroberten die Ungarn abermals den Weltmeistertitel“ usw. Schröder blieb die innere Wahrheit dieses Stückes verborgen. Schön in der Hand lag das Buch trotzdem, ein Taschenbuch!, genauso wie Albert Ostermaiers Fußballeingebungen „Der Torwart ist immer dort, wo es weh tut“. Die fingen mit drei Oden an Kahn an, was Schröder reichte: Warum keine an Lehmann? Warum immer der „Titan“, au weia, nie der Schöngeist? Warum der Papillon-Fan, nicht der Sven-Regener-Hasser?

Nein, es war ein Kreuz mit den Fußballbüchern. Nicht nur, dass Schröder sie nicht verstand. Wenn er loslegen wollte, fielen ihm die Augen zu; Spiele wie Ukraine – Schweiz oder Frankreich – Spanien hatten ihm vorher schon alles an Energie und Leseleistung abgefordert. Nicht mal Thomas Huetlins Bayern-München-Buch war ihm als Bayern-Fan einen Blick wert: Er wollte jetzt nichts über Bayern lesen. Schröder gab sich geschlagen und beschloss, die Fußballbücher bis 2008 aufzuheben. Dann würde er sie lesen. Er war da absolut guten Mutes. ALEXANDER LEOPOLD