Boom-Town Moskau frisst ihre Dörfer

Butowo ist eine von 36 Siedlungen, die der expandierenden russischen Hauptstadt weichen sollen. Dafür wollen die Behörden die Bewohner zwangsumsiedeln. Die Betroffenen, deren Vorfahren unter Stalin dasselbe Schicksal erlitten haben, wehren sich

Die Enteigneten von Butowo sind Statisten. „Indianer, die aufs Reservat warten“

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Russlands Trikolore, ein Porträt vom Kremlherrn Wladimir Putin und orthodoxe Ikonen schmücken Haus und Dachfirst der Prokofjews in der Gartenkolonie in Juschnoje Butowo. Niemand soll behaupten können, die Adresse in der Bogutscharskaja Uliza im Süden Moskaus sei ein Hort der Opposition oder gar ein Nest antirussischer Umtriebe. Das patriotische Bekenntnis zu Kirche, zum Kreml und dessen Herrn hat sich ausgezahlt. Denn ganz Russland kennt die Familie, die seit Wochenbeginn Gerichtsvollziehern, Abrisstrupps und den berüchtigten Omon-Einheiten des Innenministeriums erfolgreich trotzte. Den Prokofjews, sie sind nicht mit dem berühmten Komponisten verwandt, drohte die Zwangsräumung. Die Gefahr ist vorerst gebannt, die klagende Stadtverwaltung blies zum Rückzug. Bilder prügelnder Polizisten hatten bei den Zuschauern Entsetzen hervorgerufen.

Der Streit schwelt seit längerem. Moskau boomt und platzt aus allen Nähten. Wohnraum und Baugrund sind knapp. 25 Prozent Wertsteigerung verzeichnet die Immobilienbranche im Jahr. Hier wird richtig Geld verdient. Täglich fräst sich der Moloch tiefer in das Weichbild des Umlands. Nur noch eine schmale Asphaltstraße trennt in Butowo die neuen Wohnburgen von der ländlichen Idylle. Insgesamt stehen 36 solcher Dörfer auf der Liste, die geschluckt werden sollen.

Jelena Jumukowa stammt aus Lipki, einem Dorf im Westen Moskaus. Die Stadtwohnung gab sie vor Jahren auf und kaufte ein Haus im Grünen. Nun soll es abgerissen werden. Das habe sie wachgerüttelt, erklärt die 40-Jährige. Sie will den Protest vernetzen, sagt sie vor der Holzwand mit Solidaritätstelegrammen aus vielen Teilen des Landes.

Metropolen sind gefräßig, so auch Moskau. In Russland fällt es den Bürgern indes besonders schwer, ihre Rechte einzuklagen. Die unersättliche Beamtenschaft verkörpert einen Typus, für den der Volksmund das Sprichwort prägte: „Stiehl, aber wahre den Anschein.“ Das trifft auch in Butowo zu. Denn die Prokofjews wurden nicht einfach enteignet. Die Stadt machte ein Angebot, mit dem man aber nicht zufrieden war. Das 2.800 Quadratmeter große Grundstück hat einen Marktwert von mindestens 150.000 Dollar.

„Wir laufen hier auf goldenem Boden“, sagt Witali, der die Unterstützer mit Tee versorgt. Moskau bot weniger als die Hälfte. Die Eigentümer klagten, und das Gericht entschied: Der Boden ist Staatseigentum. Mutter und Sohn Prokofjew wurde eine Einzimmerwohnung von 18 Quadratmetern Wohnfläche zugewiesen, die ihnen aber nicht gehört. Die Familie konnte keinen Nachweis des Grundstückserwerbs erbringen. In den 30ern des 20. Jahrhunderts hatte Diktator Stalin die Zwangsumsiedlung nach Butowo angeordnet.

Das kommunistische Rechtssystem kannte kein Grundeigentum. Zwar galten Häuser als Privatbesitz, nicht aber das Land darunter. Inzwischen wurde das Recht geändert, die Behörden weigern sich jedoch, die neuen Gesetze anzuwenden. „Wer 15 Jahre auf einem Stück Land lebt, hat das Recht auf Privatisierung“, erklärt der Abgeordnete der Moskauer Duma, Jewgeni Wolkow – egal ob er die Papiere hat oder nicht. „Paradox, als Kommunist muss ich mich jetzt auch noch für Eigentumsrechte stark machen“, sagt Wolkow, der jeden Tag mit der frischen Ausgabe der Parteizeitung Sowjetskaja Rossija bei den Prokofjews vorbeischaut. Nur wenigen Moskauern ist es gelungen, Eigentumstitel zu erwerben.

Nachbarn halten trotz Entwarnung vor dem Haus der Prokofjews Tag und Nacht Wache. Unter Bäumen schlugen Helfer aus Moskau und Umgebung Zelte auf. „Wir lassen uns nicht vertreiben“, erklärt der Geheimdienstler Maxim Trifanow. Der gebürtige Butower stünde, käme es hart auf hart, seinen Kollegen gegenüber.

Der Kreml ist kein Freund von Bürgerprotest. Daher ist es umso erstaunlicher, dass die gleichgeschalteten Staatssender unzensiert berichten können. Beobachter vermuten eine Intrige: Der Kreml wolle den Clan des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow demontieren und an dessen Fleischtöpfe gelangen. Fest steht: Die Enteigneten von Butowo sind nur Statisten. „Indianer, die aufs Reservat warten“, nannte das ein Anwohner.