Herumdoktern im Mikrokosmos

CHARITÉ Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer trägt die Entwicklung der berühmtesten medizinischen Einrichtung Berlins in seinem Buch „Die Charité. Ein Krankenhaus in Berlin von 1710 bis heute“ zusammen. Ein Geschichtsbuch für den Hausgebrauch

Bis zum Mauerbau verlor das Krankenhaus 180 Ärzte, die aus der DDR flohen

Einige Institutionen prägen schon seit hunderten Jahren die Stadt Berlin. So zum Beispiel die Charité, die bereits eine Radierung Matthaeus Seutters um das Jahr 1740 zierte. Der Medizinhistoriker Ernst Peter Fischer geht in seinem jüngst erschienenen Buch „Die Charité. Ein Krankenhaus in Berlin 1710 bis heute“ der Geschichte der traditionsreichen Klinik nach. Ein Geschichtsbuch für den Hausgebrauch.

Die Charité, das zeigt Fischer, war oft ein Spielball der Politik, abhängig von technischen Tücken und Aberglauben. In den behandelten Leiden spiegeln sich Kriege, die Laster und Nöte der Gesellschaft. Selbst ihre Gründung verdankt die Charité einem Anstoß von außen: Als im Jahr 1710 in Europa die Pest wütete, da ließ Friedrich I. von Preußen hinterm „Spandower Tor“ ein Lazarett errichten. Doch weil die Epidemie noch vor den Toren Berlins Halt machte, wurde das Haus kurzerhand zum Aufnahmeheim für Hilfsbedürftige aller Art: Bettler, ledige Schwangere und Kranke durften dort übernachten und erhielten ärztliche Verpflegung. Zugleich blieben sie – das verschweigt der Autor in seiner Euphorie – separiert von Restberlin.

Nüchtern setzt Fischer das aus heutiger Sicht etwas stümperhaft anmutende Herumdoktern und Herumschrauben in der frühen Charité immer in ein Verhältnis zur Zeit. Bis zur Epoche der Aufklärung hinein galt der menschliche Körper als ein Mysterium der Schöpfung. Erst Ende des 18. Jahrhunderts griffen Mediziner zu experimentellen Beweismitteln: In der Berliner Schule wurde mikroskopiert und man sah Ohren und Fingernägel plötzlich aus den selben Zellbausteinen zusammengesetzt.

Allmählich schwand die Vorstellung, dass der Mensch ein Mix aus Körpersäften sei, die nur in ein richtiges Verhältnis zu bringen sind. Doch selbst dann bildete der Körper immer wieder eine Folie für philosophische und politische Interpretationen. Der Pathologe Rudolf Virchow begriff den Menschen als einen „Zellenstaat“ und leitete daraus die politische Vorstellung eines individuellen Bürgers ab. Er sprach sich für ein Zusammenwirken von Politik und Medizin aus und setzte unter anderem die Sanierung der Berliner Kanalisation und den Neubau mehrerer Klinikgebäude durch.

Im NS ließen sich viele Ärzte „freiwillig gleichschalten“. Einige unterstützten die Politik der Nazis und ihre Euthanasiebestrebungen offen. Zu den umstrittenen Ärzten zählt Ferdinand Sauerbruch. Als erfolgreicher Chirurg, der eine künstliche Armprothese entwickelt hatte, arbeitete er mehrere Jahre im Forschungsrat der Nazis. Bis 1990 stand die Charité auf sowjetischem Sektor. Bis zum Mauerbau verlor das Krankenhaus 180 Ärzte, die aus der DDR flohen. „Die Leute liefen in Scharen davon; man wusste nicht, ob in der Früh alle zum Dienst kamen“, zitiert der Autor eine Krankenpflegerin.

Teilweise überhöht Fischer den guten Willen und den Idealismus der Berliner Medizin. So bläht er die Charité zu einem Beispiel auf, „wie das Bemühen um die Gesundheit trotz der turbulenten Wechselfälle der Geschichte von Erfolg gekrönt wurde“. Deshalb wirkt der Text manchmal allzu euphorisch, weil er ein teleologisches Weltbild – im Sinne einer Besserung der Menschheit – auf den Mikrokosmos des Krankenhauses eindampft. ISABEL METZGER

■ Ernst Peter Fischer: „Die Charité. Ein Krankenhaus in Berlin 1710 bis heute“. Siedler, München 2009, 288 S., 19,95 €