Ziemlich ausgeblutet

Der Radprofi Jan Ullrich hat sich offenbar wie viele andere Spitzensportler gedopt. Die Schwelle zum Doping sank selbst bei ihm, da sein eigenes Blut dafür eingesetzt wurde

Zu schön ist die Vorstellung, dass die 180 Fahrer den Mont Ventoux nur mit ihren Muskeln bewältigen

Eine siebenköpfige Ausreißergruppe liegt an der Spritze des Feldes. ARD-Versprecher während der ersten Tour-Etappe

Die Tour de France ist „enthauptet“, „ins Herz getroffen“, der Radsport „schwer verletzt“. Die Metaphern zum Dopingskandal der Tour blühten drei Tage lang wie der Löwenzahn auf der EU-Wiese. Die Schlagzeilen waren saftig, manchmal sogar witzig („Ullrich ausgeblutet“). Doch wer genauer hinsah, erkannte auch, dass zumindest ein Teil der Kommentatoren beleidigt war, weil man der Tour ihren Glanz und den Zuschauern einen Teil des Vergnügens gestohlen hatte. Der jährlich wiederkehrende Spaß, im Fernsehsessel bei einem kühlen Bier am Kampf der Titanen bei der wohl größten Schinderei im weltweiten Spitzensport teilzunehmen, ist dahin. „Der Kreuzzug gegen das Doping hat die Favoriten besiegt“, schrieb ein enttäuschter Liebhaber im spanischen Magazin Sport.

Von Jan Ullrich selbst ist auch am sechsten Tag nach der Enthauptung wenig zu hören. Ein ziemlich lautes Schweigen. Der Rostocker sucht noch immer nach einer Verteidigungsstrategie. Die Generalausrede aller Radprofis, dass ihnen etwas untergeschoben wurde, scheidet in diesem Fall ebenso aus wie manipulierte Zahnpastatuben. Wie also kommt Ulrichs Blut in den spanischen Kühlschrank des Dr. Fuentes? Eine fehlgeleitete Blutspende des Deutschen Roten Kreuzes? Als Antwort schmückt Ullrichs Homepage eine dreiste 14- Zeilen-Meldung. „Ich habe mit der Sache nichts zu tun“, erfährt man dort, und dass er sich „in Bombenform befindet“. Kein Wunder, möchte man hinzufügen. Außerdem insistiert er darauf, dass alle Dopingkontrollen bei ihm „negativ waren“. Die eigentliche Frechheit der Webseite: Ullrich suggeriert, dass er gar nicht weiß, worum es bei dieser „Sache“ geht. „Ich habe von offizieller Seite nichts bekommen und nicht erfahren, welche Vergehen man mir vorwirft.“

Während Ullrich also Hase heißt und sich dumm stellt, kursiert längst sein medizinischer Terminkalender mit genauen Zeitangaben, wann er welche Blutinjektionen bekommen hat: 18. September 2005 (zwei Einheiten), 22. Dezember 2005 (zwei Einheiten), 20. Februar 2006 (eine Einheit) und 1. Mai 2006 (drei Einheiten – direkt vor dem Start zum Giro d’Italia).

Die Opfer-Haltung Ullrichs deckt sich mit der Chuzpe, die den ebenfalls ausgeschlossenen Giro-Gewinner Ivan Basso auszeichnet. Der empört sich, er sei „wie ein Dieb“ behandelt worden. Der ebenfalls gesperrte Spanier Francesco Mancebo wählt den ganz großen Gang: „Wenn man alle gedopten Fahrer von der Tour ausschließen würde, säße der Tour-Direktor allein im Sattel.“ Nicht nur ein großer Teil der Zuschauer, sondern auch der Athleten ist offenbar überzeugt, dass „sowieso alle was nehmen“. Mit dieser Einschätzung im Hinterkopf wird es aber unmöglich, selbst sauber zu bleiben, weil automatisch nach jedem verlorenen Rennen eine innere Stimme die Niederlage dadurch erklärt, das einer nicht oder zu wenig gedopt hat.

Anders formuliert: Wenn alle betrügen, fühlen sich die wenigen Sauberen als die Deppen. Und sie sind es auch objektiv. Deshalb haben die Fahrer auch keinerlei Unrechtsbewusstsein. Jeder neu entlarvte Dopingsünder bestärkt nur die Grundüberzeugung, dass „alle“ nachhelfen. Der französische Bergkönig und Publikumsliebling Richard Virenque hatte bei der Festina-Affäre 1998/99 trotz erdrückender Beweislage jeden Vorwurf hartnäckig bestritten. Erst im allerletzten Augenblick brach er im Gerichtssaal mit Weinkrämpfen zusammen und gestand systematisches Doping.

Offenbar ist der Radsport derart verludert, dass selbst Fahrer mit Charakter schwach werden. Nur: Hat Jan Ullrich Charakter? Jens Heppner, der frühere Zimmergenosse des T-Mobile-Stars, sagt: „Niemand, der Jan kennt, hätte das gedacht!“ Man darf vermuten, dass die Schwelle zum Doping auch bei Ullrich dadurch herabgesetzt wurde, dass beim Blut-Transfer körpereigene Säfte und keine fremden Medikamente zugeführt werden. Man holt sich nur zurück, was vor Monaten aus der eigenen Vene entnommen wurde. Dazu kommt die Sicherheit, dass kein Kontrolleur bei Urin- und Bluttests jemals etwas Verdächtiges finden wird. Fündig wurden die Fahnder dann doch. Wie bei vielen großen Skandalen lieferte eine saubere Buchführung am Ende die Beweise. Und in spanischen Kühlboxen fand sich ein großes Depot an Blutkonserven.

Ullrichs „Schock“ resultiert jetzt eher daher, dass er sich auf ein todsicheres System verlassen hat und dennoch erwischt wurde. Er hat sein Gesicht verloren und neben seiner Karriere und seinem Ruf als Radsportlegende auch seine berufliche Zukunft als Marketing-Figur von T-Mobile. Millionen Fans und Zuschauer hatten bis zuletzt gehofft, dass der sympathische Rostocker, der zu Schokolade, Wein und Törtchen so schlecht Nein sagen kann und damit einer von uns ist, unbeschädigt bleibt. Vorbei! Die leise Resthoffnung, Ullrich könnte tatsächlich ein Opfer sein, ist so schnell entschwunden wie der Tourtross aus dem Elsass: ein „60 Kilometer schneller Leichenzug“, wie die Repubblica schrieb.

Jetzt macht wieder der Ruf nach „lückenloser Aufklärung“ die Runde. Tatsächlich ist es in diesem Fall möglich, mit Vergleichsproben oder Speicheltests die Blutkonserven zweifelsfrei zu identifizieren. Die Frage ist dabei nicht, ob Ullrich den Gentest macht. Sondern ob der Verband den Mut hat, alle Fahrer, die den Test verweigern, für vier Jahre zu sperren. Auch der Zugriff auf alte Blutproben wäre zur Identifikation von Dr. Fuentes Beutel-Sammlung möglich. Um Eigenblut-Doping zu verhindern, sind künftig regelmäßige Blutentnahmen nötig. So könnte man Blutprofile der Athleten anlegen – die einzige Chance, um sprunghafte Anstiege roter Blutkörperchen nachzuweisen.

Wenn alle betrügen, fühlen sich die wenigen Sauberen als die Deppen. Und sie sind es auch objektiv

Die mit jedem Skandal neu wachsende Einsicht, dass wir bei der Tour all die Jahre ein durch Doping manipuliertes und bis in die Radnabe betrügerisches Spektakel verfolgen, fällt vielen auch jetzt noch schwer. Zu schön ist die Vorstellung, dass die 180 Fahrer den Mont Ventoux oder den Pass von Alpe d’Huez mit nichts anderem als ihren Muskeln bewältigen. Dabei wäre es dem Publikum völlig egal, ob die Fahrer einen Schnitt von 35 oder 40 km/h fahren. Die Dopingskandale des Radsports sind also nicht nur eine Folge der Spektakelgier des Publikums. Die Tour könnte getrost um einige Berge und Etappen entschärft werden, ohne dass die Rennen an Reiz verlieren und die Zuschauer abspringen. Es macht wenig Sinn, über „Doping-Verbrechen“ zu jammern und gleichzeitig immer brutalere Strecken auszuwählen.

Die Fernseh-Übertragungen von der Tour gehen inzwischen weiter. Die ARD praktiziert hier moderne Arbeitsteilung. Während Magazine wie „Panorama“ oder „Monitor“ über das dopingverseuchte Peloton herfallen, bleibt Mama ARD der große Promotor der Rundfahrt – immer dicht an der Spritze des Feldes.

MANFRED KRIENER