„Spüren, wie das Gewicht weniger wird“

NACHBARSCHAFTS-MEDIATION Lärm, Vandalismus oder Anonymität: Für Nachbarschaftskonflikte gibt es viele Gründe. Der Hamburger Mediator Dieter Lünse über erfolgreiche Vermittlung bei Streit vor Ort

■ 53, Sozial-Ökonom und Mediator. Er leitet das 1998 gegründete Hamburger Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation (IKM).

taz: Ihr Mediations-Institut hat bereits vor Jahren Nachbarschafts-Initiativen wie das „Streithaus“ in St. Georg ins Leben gerufen. Was für ein Projekt ist das, Herr Lünse?

Dieter Lünse: Die Idee war grundsätzlich davon getragen, einen Streit möglichst auf Augenhöhe zu lösen – und möglichst frühzeitig. Konflikte werden oft lange aufgeschoben. Dann wird gerne die Polizei gerufen, die jedoch nicht die Aufgabe der Vermittlung hat. Vor diesem Hintergrund richteten wir das „Streithaus“ ein, in dem wir unterschiedliche Menschen, vom Hausmeister über die Mitarbeiterin einer Wohnungsbaugenossenschaft bis hin zum Sozialarbeiter, als Mediatoren ausbildeten.

Wie war das Ergebnis?

In den ersten Jahren war das Projekt sehr erfolgreich. Zu den Aufgaben gehörten nicht nur die konkrete Vermittlung bei Konflikten, sondern besonders die Sensibilisierung der Bewohnerinnen und Bewohner. Ihnen wurde vermittelt, dass es sich lohnt, in das „Streithaus“ zu gehen. Als schwierig erwies es sich aber mit der Zeit, das Projekt allein mit Ehrenamtlichen am Laufen zu halten.

Haben Sie inzwischen andere Nachbarschafts-Mediations-Projekte initiiert?

Ich habe generell den Eindruck, dass wir inzwischen in einer anderen Zeit, einem neuen Jahrzehnt angekommen sind. Die Menschen haben mehr Mut und ein „Streithaus“ wäre heute nicht nur mit anderen Mitteln ausgestattet, sondern bekäme von Anfang an auch eine höhere Nachfrage. Dies sehen wir gerade an einem neuen und doch sehr ähnlichen Format, das wir entwickelt haben. Für den Stadtteil Veddel etwa haben wir die sogenannten Kiezläufer ausgebildet.

Wer ist das?

Junge Leute, die mit Mediationskompetenz rausgehen und Konflikte entschärfen. Mit dem Projekt wird ein hohes Maß an Kommunikation im Stadtteil hergestellt und bei konkreten Problemen auf der Straße vermittelt.

Welche Art von Konflikten sind in Nachbarschaften am häufigsten?

Die „Kiezläufer“ orientieren sich an Kindern und Jugendlichen. Aus der Sicht der BewohnerInnen sorgen die oft für Ärger wegen Lärm, Vandalismus, manchmal auch nur, weil sie sich als Gruppe versammeln. Inzwischen leben so viele unterschiedliche Menschen in den Quartieren zusammen, dass wir sehr viele Konfliktgründe haben.

Was sind die wichtigsten?

Anonymität ist ein wichtiger Faktor. Wenn sie steigt und ich nicht mehr weiß, wer mein Nachbar ist, obwohl ich ihn oft sehe, verschärfen sich die Auseinandersetzungen. Zunehmender Verkehr oder Parkplatzprobleme sind ebenfalls Gründe, die einem Miteinander entgegenstehen.Wenn um kleine Sachen großer Streit ausbricht, sehen wir, dass sich die Streitkultur ändert.

Gibt es Grundregeln für eine erfolgreiche Mediation?

Es gibt schon gute Regeln, die dabei helfen, selber einen Streit um den Parkplatz oder Lärm zu deeskalieren. Wir haben einen kleinen Leitfaden für SchülerInnen mit den wichtigsten Hinweisen entwickelt.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine etwa lautet: Abstand halten und zuhören. Wir alle kennen das, wenn wir auf unserer Wut sitzen und allein nicht weiter wissen. Dann helfen die Vermittlerinnen und Vermittler, weil sie beide Seiten eines Problems zeigen können. Damit werden streitende Menschen entlastet und spüren, wie das Gewicht weniger wird. Wir sollten vermeiden, uns zu lange in Wut, Enttäuschung oder Angst zu vergraben. Die Hoffnung, dass allein die Zeit Wunden heilt, ist trügerisch.

INTERVIEW: SEBASTIAN BRONST