Soll die Kirche raus aus den Schulen?

AMEN Baden-Württemberg will im „Bildungsplan 2015“ Wissen über sexuelle Vielfalt zum Erziehungsziel erklären – zur Entrüstung kirchlicher Ordnungshüter

JA

David Berger, 45, Theologe und Chefredakteur des Lifestyle-Magazins „Männer“

In ihrem Positionspapier gegen Homosexualität auf Baden-Württembergs Lehrplan schreiben die Kirchen: „Jeder Form der Funktionalisierung, Instrumentalisierung, Ideologisierung und Indoktrination gilt es zu wehren.“ Damit hat die Kirche selbst das wichtigste Argument geliefert, warum sie in den Schulen nichts zu suchen hat. Ideologisch motivierte Indoktrination ist nämlich nicht gegeben, wenn Schüler „bei ihrer Suche nach der sexuellen Identität“ unterstützt werden. Statt Toleranz und Akzeptanz werden im Religionsunterricht – auf Kosten des Staates – Schüler mit einer Lehre indoktriniert, die die Grundlagen für die Ablehnung der Demokratie und die Diskriminierung Homosexueller und Frauen liefert.

Christian Stärk, 20, Vorsitzender des Landesschülerbeirats Baden-Württemberg

Die Kirche verhält sich als verstaubte Institution. Ihr Weltbild ist überholt und schlicht verzerrt. In Baden-Württembergs Kultusministerium arbeitet sie trotzdem nicht nur an neuen Bildungsplänen mit, sondern wird zu vielen Arbeitssitzungen rund um Fragen der Bildung eingeladen. Zwar sind diejenigen, die dort mitarbeiten meist weltgewandt, auch die Religionslehrer, die über die Kirche angestellt sind, machen überwiegend vernünftigen Unterricht. Doch die Kirche als Institution darf in Zukunft keine Rolle mehr spielen. In Bildungsfragen muss es darum gehen, eine tolerante Gesellschaft zu fördern. Die Kirche dagegen unterstützt Ressentiments und sogar Hetze, indem sie sich nicht entschieden gegen eine völlig diskriminierende Petition stellt.

Bettina Auschra, 22, ist taz-Leserin und studiert im dritten Semester Anglistik in Leipzig

Glauben die Gegner eines Schulunterrichts, der sexuelle Vielfalt nicht einfach ausblendet, ernsthaft, dass dieser dazu führen könnte, dass es auf einmal viel mehr Homosexuelle oder Bisexuelle geben wird? Und wenn, was wäre schlimm daran? Man lernt seine sexuelle Orientierung nicht in der Schule. Man lernt nur, dass es einfacher ist, sie zu verstecken, wenn sie nicht der „Norm“ entspricht. Dadurch, dass in der Schule fast nur über heterosexuelle Partnerschaften gesprochen wird, wird alles andere als abnormal abgetan. Die „höhere Suizidgefährdung unter homosexuellen Jugendlichen“ und „die erhöhte Anfälligkeit für Alkohol und Drogen“ sind nicht auf den LSBTTIQ-Lebensstil an sich zurückzuführen, sondern darauf, dass er von vielen nicht akzeptiert wird. Ein Schulunterricht, in dem darüber offen geredet wird, könnte das ändern.

Detlef Mücke, 69, AG schwule Lehrer in der GEW, trägt das Bundesverdienstkreuz

Aufgabe der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schüler_innen zur Entfaltung zu bringen, auch ihre sexuelle Identität, und sie auf ein selbstbestimmtes Leben in der heutigen Lebensrealität vorzubereiten und nicht auf ein Leben im Jenseits. Seit Bismarcks Kulturkampf steht bis heute das Schulwesen unter staatlicher Aufsicht. Bildungsziele – insbesondere in der Sexualerziehung – sollten wissenschaftlich fundiert sein und sich an der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ orientieren, nachdem jede_r das Recht auf Freiheit vor Diskriminierung hat. Die Kirchen sind seit Jahrhunderten verantwortlich für die rechtliche und gesellschaftliche Ächtung von Homosexuellen und für noch bestehende Vorurteile ihnen gegenüber. Moralische Kategorien wie „Sünde“ haben an einer staatlichen Schule nichts zu suchen.

Giulia Neumann, 21, studiert Erziehungswissenschaft und ist taz-Leserin

Was gibt die Kirche den Kindern mit? Sie trennt die Schüler in Gruppen wie Christen und Muslime. Sie zeigt keine Offenheit und Modernität. Sie thematisiert Nächstenliebe, doch wendet diese nicht bei jedem Menschen an. Die Kirche hat 2014 ihre Legitimation an den Schulen verloren. Sie belehrt Schüler mit einem Gesellschaftsbild, das nicht mit den Menschenrechten übereinstimmt. Es ist richtig, in der Schule philosophische und ethische Normen und Werte zu vermitteln, aber ohne erhobenen Zeigefinger und ohne soziale Selektion. Wir brauchen in den Schulen selbst denkende Köpfe.

Nein

Reyhan Sahin alias Lady Bitch Ray, 33, Sprachwissenschaftlerin und Rapperin

Sowohl die Kirche als auch die Moschee und die Synagoge müssen endlich toleranter werden und sexuelle Vielfalt in ihre Glaubenslehre einbeziehen! Und zwar nicht nur die, sondern auch die Emanzipation der Frau. Die konservativsten Schulen Bayerns sollten einen umfangreichen Sexualunterricht für Schüler_innen anbieten: Homosexualität, Selbstbefriedigung, Verhütung, mediale Pornografisierung sowie die Selbstverständlichkeit von weiblicher Lust. Sexualität ist ein wichtiger Teil des Lebens – das muss auch mal die katholische Kirche begreifen! Fuck Homophobie – freedom for Pussy Riot! Wenn Deutschland ein laizistischer Staat wie Frankreich wäre und die „Kirche aus den Schulen raus“ ginge, hieße das, dass auch das Kopftuch an Schulen verboten wäre. Das würde strenggläubige Musliminnen ausgrenzen und ihre Bildungschancen blieben ihnen verwehrt.

Stefan Cohnen, 47, evangelischer Pfarrer in Baden-Württemberg und taz-Leser

Als Pfarrer in Stuttgart ärgert mich die Positionierung meines Arbeitgebers. Gleichzeitig muss man aber zweierlei sehen: Auch wenn Pressemitteilungen in der Regel nur von Kirchenleitungen kommen, repräsentieren sie – zumindest aus evangelischer Sicht – nicht die Kirche insgesamt, sondern in diesem Fall eine Haltung, die hier im Ländle auch dem hohen Anteil an Evangelikalen geschuldet ist. Der Religionsunterricht an der Schule ist trotzdem eine Chance. Ich erlebe ihn nicht als Missionsveranstaltung, sondern als Freiraum im Schulbetrieb, in dem die Schüler zur Diskussion ermutigt werden. Das ist im G8-Betrieb keine Selbstverständlichkeit.

Wolfgang Thierse, 70, ehemaliger Vizepräsident des Deutschen Bundestags

Nein, denn das wäre Intoleranz in umgekehrter Richtung. Ansichten, die nicht passen, werden hinausgeworfen. Das ist bequem, aber wäre falsch. Nein, denn was soll an die Stelle der Kirchen treten? Die Schule nur noch ein Ort für Atheisten, Agnostiker, Säkularisten? Wenn die Freiheit immer auch die der Andersdenkenden ist, dann darf diese nicht nur von denen inhaltlich gefüllt werden, die sich selbst zu den Aufgeklärt-Säkularen zählen. Nein, weil der Staat des Grundgesetzes (und damit auch seine öffentlichen Schulen!) weltanschaulich neutral ist, also kein säkularistischer. Durch diese Zurückhaltung ermöglicht er die Religions- und Weltanschauungsfreiheit seiner Bürger. Er hat allerdings für Fairness zu sorgen. Diesen Streit kann und soll man nicht durch einen Rauswurf der Kirchen vermeiden. Er muss ausgetragen werden.

Birgit Sendler-Koschel, 52, Leiterin der Bildungsabteilung der Evangelischen Kirche

Die werteorientierte Bildung an evangelischen Schulen legt den pädagogischen Fokus auf Verantwortungslernen und die Achtung der Menschenwürde. Der Staat profitiert vom gesellschaftlichen Engagement religiöser Menschen. Für unsere Demokratie ist es wichtig, dass in der religiösen und ethischen Bildung deutlich wird, auf welcher Grundlage sie fußt. Daher wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes einen konfessionellen Religionsunterricht. Dieser ist ein Erfolgsmodell: Bis zu 30 Prozent nicht-evangelische Schülerinnen und Schüler nehmen teil. Sie schätzen dessen Offenheit in religiösen und ethischen Fragen. Mit religiöser und kultureller Vielfalt umgehen zu können, stärkt den Pluralismus und den friedlichen Dialog der Verschiedenen.

Tim Kummert, 19, Schüler aus Karlsruhe in Baden-Württemberg und taz-Leser

Die Debatte um die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ ist prima. Doch der Streit hat eine bizarre Seite: Dass ausgerechnet die Kirchen sich dagegen aussprechen, erscheint – besonders im Zuge der Enthüllungen um offenbar gelebte Homosexualität im Vatikan – verlogen. Die Kirche an sich muss nicht raus aus den Schulen. Religionsunterricht bringt Schüler in Glaubensfragen weiter – egal in welche Richtung. Beginnen die Kleriker jedoch, sich in die Bildungsplangestaltung einzumischen, eignen sie sich eine Autorität an, die ihnen nicht zusteht. Die Bildungshoheit hat das Land – nicht die Kirche.