Die dreifache Antithese

Mit hintergründig philosophischen Geschichten über Kabbala-geübte Katzen und liebeskranke Vampire ist Joann Sfar in Frankreich zu einem der erfolgreichsten Comicautoren geworden. Jetzt liegen einige seiner Bände auch auf Deutsch vor

VON MARTIN ZEYN

„Es geht darin um Juden, der Tod ist quasi omnipräsent, und trotzdem ist es lustig.“ So beschreibt Joann Sfar den Inhalt seines Comicbandes „Desmodus – der kleine Vampir“, der beim Avant Verlag erschienen ist. Aber diese Aussage trifft für viele seiner Werke zu: Überall Untote und Gespenster – Groschenheftvarianten des Todes. Der Sensenmann ist damit zwar vorhanden, aber zugleich entwaffnet, entzaubert, profanisiert. Der Tod erscheint hier weder als Meister noch als ein billiger Gag. Daher überrascht die Würde nicht, mit der Michael, der kleine jüdische Waisenjunge und Spielkamerad von Desmodus, im Gespräch mit dem Fliegenden Holländer die Frage der Theodizee angeht: „Außerdem glaube ich nicht an Gott, weil meine Eltern tot sind. Nach allem, was er mir angetan hat, bin ich ihm nichts schuldig.“ Wohlgemerkt, wir befinden uns in einem Kindercomic, einem in Frankreich erfolgreichen und mittlerweile auch verfilmten.

Die optische Differenz zu Hergé, dem Übervater des francobelgischen Comics, könnte nicht größer sein. Statt der wohlgeordneten ligne claire liebt Sfar Ornamente und Schraffuren, die er allerdings krickeliger macht als nötig. Einige Figuren zeichnet Sfar mit Akribie und genauen Proportionen; andere, wie etwa der kleine Michael, haben einen peanutshaften Kürbiskopf. Das ist keine Unfähigkeit. Sfar, der Malerei, Philosophie und laut Interviews auch Morphologie studiert hat, sagt von sich, dass ihm an der Akademie das Zeichnen von Proportionen sehr leicht gefallen sei. Bei seinen Bildern entsteht vielmehr der Eindruck, er zerstört absichtlich bestimmte Erwartung an eine „realistische“ Wiedergabe. So scheint der Kater aus „Die Katze des Rabbiners“ überhaupt kein festgelegtes Äußeres zu haben, was für Hauptfiguren in Comics sehr ungewöhnlich ist, denn Wiedererkennbarkeit sichert die Zuordnung. Dagegen probiert Sfar aus, wie weit er seine Figur deformieren kann. Vielleicht bricht er deshalb auch immer wieder die Arbeit an Serien ab, weil die kontinuierliche Beschäftigung mit Figuren ihm keine Überraschung mehr bietet.

Noch etwas unterscheidet den 1971 in Nizza geborenen Sfar von Hergé. Er bewundert dessen Gagstruktur, macht sich allerdings lustig über den lausigen Aufbau der Tim-und-Struppi-Geschichten. Was ihm besonders missfällt, ist die Pfadfinderidylle – überhaupt scheint alles, was Sfar interessiert, dort zu fehlen. Und tatsächlich, der Tod ist bei Hergé abwesend – nahezu.

Bei Sfar hat die Anwesenheit des Todes auch biografische Gründe. Seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war. Man sagte ihm, sie sei verreist: „Das machte man damals eben so.“ Erst dem Fünfjährigen erzählte der Großvater, bei dem er aufwuchs, unter Tränen die Wahrheit. Die Wut, ihm als Kind die Trauer verwehrt zu haben, ist Sfar bis heute anzumerken. In den ersten beiden „Professor Bell“-Alben verliebt sich die Hauptfigur in tote Frauen. Doch von Larmoyanz, von Nekrophilie keine Spur. „Es wird zu einer verabscheuungswürdigen Gewohnheit“, kommentiert bitter Bell seine Fixierung auf Objekte, von denen er ahnt, dass sie für ihn verloren sind.

Überhaupt fehlt Sfars Arbeiten jeglicher Trauerflor, jegliche tradierte Anteilsgeste. Oder wenn, dann wird sie von einem Grobian geäußert. Der hohe Ton ist Sfars Lieblingsangriffsziel. Er lässt in „Die Katze eines Rabbiners“ einen Kater über das jüdische Gebot dozieren, den Namen Gottes nicht leichtfertig im Munde zu führen, und ihn im Disput sogar über einen Schriftgelehrten siegen. Nun kennt die europäische Literatur den Picaro-Roman, in dem Narren die Wahrheit sagen – aber eine Katze? E.T.A. Hoffmann hat es mit seinem „Kater Murr“ vorbereitet, aber die Katze ist beim Romantiker zumindest keine Autorität in theologischen Fragen.

In Frankreich hat Sfar schon über 450.000 Alben von „Die Katze des Rabbiners“ verkauft. Ein erstaunlicher Erfolg von Comics mit explizit jüdischen Inhalten und fundierten Kenntnissen der Kabbala, die Sfar auf dem Schoß seines Großvaters erwarb, einem Holocaustüberlebenden, der Rabbiner hatte werden wollen. Ein Grund mag sein, dass der Zeichner sich gegen eine rein melancholische Zurichtung des Judentums wehrt. Als Vorbilder nennt er Billy Wilder und Ernst Lubitsch, was den Unterschied zu Madonnas modischen Kabbala-Accessoires deutlich macht. Sfar missioniert nicht, vielmehr nutzt er Methoden des jüdischen Glaubens. In „Die Katze des Rabbiners“ heißt es: „Die Logik ist These, Antithese, Synthese. Die jüdische Lehre ist These, Antithese, Antithese, Antithese.“

Es ist, als unterziehe Sfar seine Geschichten und Personen ständig dieser Denkoperation, die sie immer wieder aus der vertrauten Bahn wirft. In dem ebenfalls gerade erschienenen „Die kleine Welt des Golem“ erzählt Sfar die Vorgeschichte von Desmodus. Der war einmal ein großer Vampir und ein unglücklicher Liebhaber. Eine Angebetete biss er, um ihr zu ewigem Leben zu verhelfen. Doch er trank zu viel Blut und sie starb. Nach weiteren Liebeshändeln hängte er sich auf, was, wie man ahnt, zu nichts führte.

In Frankreich ist Sfar ein Star. Die Zeitschrift Télérama bildete ihn auf dem Cover vor einer Glasscheibe ab, während er mit weißer Farbe ein Ornament zeichnet. Das hat Pablo Picasso einmal für einen Dokumentarfilm gemacht. Le roi est mort. Dank dem Berliner Avant Verlag liegen jetzt elf Alben des neuen Zeichnerkönigs auf Deutsch vor.

Joann Sfar: „Die Katze des Rabbiners“, „Desmodus – der kleine Vampir“, Avant Verlag, Berlin