Weltmeisterschaft der Herzen

Über das Hupen in der Nacht, Klinsmann als doppelte Ikone, den glücklich missglückten Euphorietransfer vom Fußball zur Politik, die Menschwerdung Oliver Kahns, fehlende Nazis und den Willen zu Spiel und Sieg – sechs subjektive Rückblicke auf die nun (seufz!) vergangenen Wochen

Plötzlich okay

Am Samstag hatte man sich ganz komisch wehmütig gefühlt; weil der Tag so angenehm schwülwarm grau verhangen war nach der großen Hitze, weil die WM zu Ende ging, die man an so vielen Orten mit so vielen Leuten geguckt hatte. Man hatte sich gleichzeitig als Gast und Gastgeber gefühlt, in der eigenen Stadt. Alles war wie die großen Ferien gewesen, und ein bisschen feierlich war einem zumute, als man das kleine Finale anguckte.

Ich fühlte mich erleichtert. Wie zurückgekommen von einer langen Reise, auf der kaum Zeit gewesen war, aufzuatmen. Erleichtert darüber, dass das Jubeln der meisten Compatriots ein Ausdruck der Freude und nicht eines Überlegenheitsgefühls zu sein schien, erleichtert darüber, so auch mitjubeln zu können. Alles schien okay wie in den besten Zeiten der Love Parade. Die Fußball-WM schien den Menschen die Furcht voreinander genommen zu haben, und die Feste waren eine fröhlichere Wiederholung der verkrampften Wiedervereinigungsfeiern von 1990.

Ich fuhr mit dem Fahrrad durch die Nacht. Der Mond sah so schön aus. Es war still und hinter dieser Stille das Hupen herumschweifender Korsos, Musik von weitem, das Brummen und Vibrieren meiner Stadt. Ich dachte an meine ersten Auslandsferien, den 14. Juli, den ich 1974, als Kind, in einer Kleinstadt in der Normandie erlebt hatte. Wie toll und sozusagen brüderlich diese Feiern gewesen waren! Und jetzt war es plötzlich auch hier so. Die Frage, inwieweit die eigene Wahrnehmung das Produkt einer raffinierten Inszenierung war, war unwichtig.

Ein Auto hielt neben mir, verträumt schaute mich eine Frau an und lächelte: „Schön, nicht!?“

DETLEF KUHLBRODT

Die Klinsmänner

Schwaben erkennt man an den aufgekrempelten Hemdsärmeln. Behaupten Schwabenkennerinnen. Nicht dass sie die Ärmel hochkrempeln, ist demnach das spezifisch Schwäbische, sondern die Art, wie sie es tun: so akkurat, als wäre das Hemd schon mit hochgekrempelten Ärmeln gebügelt worden.

Jürgen Klinsmann, Bäckersohn aus Stuttgart-Botnang, demonstriert diesen Stil in Perfektion. Er hat daraus ein persönliches Markenzeichen gemacht, ja mehr noch, ein Symbol. Die Ärmel aufkrempeln, um Tatkraft zu simulieren – das kann jeder. Aber beim Zupacken kein bisschen hemdsärmelig und verschwitzt wirken – das ist Klinsmanns besondere Fähigkeit. Schon als Spieler erlief er sich seine Brillanz durch hohen Arbeitseinsatz. Als Trainer verbindet er schwäbische Bodenständigkeit mit kalifornischer Weltgewandtheit. Oder besser: schwäbisch-naive Offenherzigkeit mit amerikanisch-abgezocktem Kalkül, Leidenschaft mit ökonomischer Rationalität, Idealismus mit Pragmatismus, Eigensinn mit Gemeinschaftsfähigkeit.

Das sind gleichermaßen Tugenden erfolgreichen Fußballs wie des Du-bist-Deutschland-Deutschlands. Deshalb ist aus Klinsmann eine doppelte Ikone geworden, die den Ernst des Spiels und das Spiel der nationalen Identität repräsentiert. Das Überwältigende an Klinsmann ist seine Fähigkeit, andere mitzureißen und für sich einzunehmen. Die Nationalmannschaft spielt so leicht, weil er sie sich ähnlich machte. Für diese Mannschaft zu spielen war früher Pflicht oder Ehre, also etwas Schwergewichtiges. Heute ist es für die Spieler vor allem eine Freude, dabei zu sein. Aus der Mannschaft wurde ein Projekt, aus etwas Statischem ein Experiment: die Klinsmänner.

Immer in Bewegung zu sein hat für Klinsmann oberste Priorität. Mutter Klinsmann erzählte gestern im Fernsehen, wie ihr Jürgen einst sein Sparschwein zertrümmerte, weil er auf den Rummel wollte, wo er, ganz unschwäbisch, das Ersparte „verpulverte“. Dann habe er gesagt: „Jetzt fang ich halt noch mal an.“ Wahrscheinlich hat ihm die Mutter da zum ersten Mal die Ärmel hochgebügelt. JÖRG MAGENAU

Neue Patrioten

Als Helmut Kohl 1986 „seinen“ Mannen bei der WM in die Kabine folgte, war dieses Verhalten aus zwei Gründen verachtenswert. Es erinnerte ans Militärische (dessen zivile Überwindung Fußball doch ist): Der Feldherr inspiziert die Truppe nach der Schlacht. Und es war der Versuch des Kanzlers, parasitär von der Popularität des Fußball zu profitieren. Diesmal war es anders. Angela Merkel trat als Fan auf. Sie hüpfte nach dem Sieg gegen Argentinien ziemlich unsportlich herum und herzte Beckenbauer, weil der gerade neben ihr stand. Sie wirkte sympathisch absichtslos. Ganz infantile Reporterfragen („Kommt Klinsmann ins Kabinett?“) wehrte sie mit der nötigen Arroganz ab. Mit gewissem Schrecken stellte man sich manchmal die gnadenlose Kumpelei vor, mit der Schröder die Klinsmann-Euphorie ausgenutzt hätte.

Interessant ist, dass während der WM die Sympathiewerte für Merkel und die große Koalition sturzflugartig gesunken sind. Noch nie seit der Wahl waren die Union, Merkel und SPD so unbeliebt wie heute. Der Gefühlstransfer vom Fußball zur Politik, auf den Politiker hoffen mögen, hat nicht geklappt – im Gegenteil. Offenbar ist Fußball für Politik nicht mehr funktionalisierbar. Politik und Fußball verhalten sich eher wie Konkurrenten in der Aufmerksamkeitsbranche, in der die Politik chancenlos ist. Der Blick war auf Frings’ Sperre und Ballacks Defensivverhalten gerichtet – die Gesundheitsreform oder den Krach in der großen Koalition nahm das Publikum entnervt im Augenwinkel wahr. Profitiert hat von der WM nicht Angela Merkel, profitiert hat eher eine Mainstream-Popfigur wie Xavier Naidoo.

Auch das Publikum funktioniert in dem Fußballpatriotismus 2006 anders. Früher stand der Fan unter dem Verdacht, unkritischer Claqueur der Fußball-Politik-Nation-Symbiose zu sein. Vorgestern in Stuttgart haben 50.000 Gerhard Mayer-Vorfelder, rechter CDU-Politiker und als Fußballfunktionär so etwas wie der Breschnew des DFB, ebenso ausdauernd ausgepfiffen, wie sie Klinsmann bejubelten. Diese „neuen Patrioten“ sind für staatstragende Inszenierungen nur bedingt zu gebrauchen. Sie haben etwas Unberechenbares, Spontanes, einen Zug ins Antiautoritäre. STEFAN REINECKE

Abgang des Titanen

Man hatte das kurz vor dieser WM und schon gar nicht die vielen Jahre zuvor nur im Allerentferntesten für möglich gehalten: dass man vor dem Fernseher sitzen und gerührt sich anschauen würde, wie Oliver Kahn seinen Abschied von der Nationalmannschaft begeht. Ja, wie die „Nummer eins“ (Titel seiner Autobiografie) als Nummer zwei bei einem Spiel um Platz drei diese WM zu seiner WM macht; ein Spiel um „die goldene Ananas“, das er als einziges WM-Spiel 2006 machen durfte, weil es Jens Lehmann und Jürgen Klinsmann ihm gewährten – im Selbstverständnis des alten Oliver Kahn, des Oliver Kahn vor seiner Degradierung zur Nummer zwei, eigentlich ein Almosen, eine Lächerlichkeit.

Rührend, wie Kahn mit seiner Rührung kämpfte, als das Spiel zu Ende war, wie er kaum Worte fand für die Stimmung nach dem Spiel und geradezu sehnsüchtig auf die Reporterfrage wartete, ob das denn jetzt sein letztes Spiel für Deutschland gewesen sei. Das stumpfe, immer nach dem sportlich Höheren strebenden Weitermachen hat nun ein Ende, und es hatte vorher schon ein Ende gefunden, als Kahn sich entschloss, als Nummer zwei die WM mitzumachen, und erst recht, als er Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien den Kopf tätschelte, abklatschte etc.

Als Fan des brasilianischen Schriftstellers Paulo Coelho hat sich Kahn einmal geoutet, dessen Bücher strahlten „so viel Wärme und Menschlichkeit“ aus. Diese Coelho-Begeisterung gibt natürlich zu denken. Doch Kahn, das muss man so sagen, hat nicht nur Größe und hat sich als echter Sportsmann gezeigt, er hat tatsächlich einmal Wärme und Menschlichkeit ausgestrahlt. Aus deutscher Perspektive war er die größte Sensation dieser WM – aus „Oliver Kahn“, dem „Titanen“, ist wieder Oliver Kahn geworden. Großes Kino, große Leistung.

GERRIT BARTELS

Versteckte Nazis?

Wo waren eigentlich die Nazis? Bei allem Gerede über den neuen deutschen Patriotismus sollte man doch die Nazis nicht vergessen. Zumal sie vor der WM noch in den düstersten Farben als Bedrohung erster Ordnung an die Wand gemalt worden waren. Auch von dieser Zeitung übrigens (aber wir befanden uns in guter Gesellschaft: dies war eine Erzählung, die von der Bild-Zeitung bis zur Jungle World, von der FAZ bis zur New York Times Sinn machte). Wo waren sie? Hat es wirklich nicht zu mehr gereicht als einem angespuckten Engländer in Berlin-Charlottenburg und einem Mann in Aachen, der seinen Fernseher auf die Straße warf, als italienische Fans feierten? Oder hatten sie sich einfach gut unter schwarzrotgoldenen Fahnen versteckt?

Wohl kaum. Internationale Großspektakel wie eine Fußball-WM öffnen eine temporäre performative Zone, die alle Menschen zur Identifikation einlädt. Die Zone hat einige Macht, sie strukturiert den Alltag, verändert die Wahrnehmung, eröffnet neue Räume. Die Nazis waren nichts weiter als die notwendigen Figuren, die die Grenze dieser Zone bezeichneten.

Ja, es gibt auch wirkliche Nazis, und sie bedrohen auch wirklich Menschen. Doch das Theater, das vor der WM um sie aufgeführt wurde, hatte nichts mit diesen real existierenden Nazis zu tun. Es war ein Drama, das für alle die gleiche Funktion erfüllte: Es diente der deutschen Selbstverständigung, als wer man denn hier nun Gastgeber ist für all die Freunde. Und: Es hat funktioniert. Denn so inhaltsleer der deutsche WM-Zonen-Patriotismus auf den ersten Blick war, so wenig verkoppelt mit Werten oder Traditionen – genau das dürfte sein eigentlicher Inhalt gewesen sein. Sich selbst (und dem Ausland) beweisen zu können, ganz ohne Nazis stolz auf dieses Land sein zu können.

Das muss nicht bis ans Ende aller Tage so bleiben. Doch es ist ein historischer Kompromiss zwischen rechten und linken Bedürfnissen, mit dem im Augenblick alle gut leben zu können scheinen. TOBIAS RAPP

Flucht nach vorn

Fast wäre alles anders gekommen: Stoiber auf der Tribüne, auf der Trainerbank Rehhagel oder Matthäus, Kahn im Tor und vorne kein Odonkor. Kopfballschlacht im Strafraum, sonst Behauptung des Brustkorbes und Warten auf Fehler und Foulspiel des Gegners. Routinierte Erklärungen für den knappen, aber, wenn man den Spielverlauf berücksichtigte, verdienten Erfolg. Bei Niederlage: trockener Rücktritt. Seit Berti Vogts jede Gelegenheit nutzte, Helmut Kohl in unvollständigen Sätzen die Männerfreundschaft zu erklären und seiner Fußballmannschaft jedes Eigenleben zu nehmen, wussten wir schon, dass es mit Deutschland so nicht weitergeht. Aber wie dann? Mit mehr Gefühl? Effenberg ist nicht Weltmeister, sondern erklärt angesichts der Liebe zur Frau seines Mannschaftskollegen Strunz, dass man gegen Gefühle halt nichts machen kann, und Möllemann fällt vom Himmel.

Dann schlägt Frau Merkel nach Kohl auch Schröder und Stoiber. Auf freiem Feld jammert Deutschland über seine verloren gegangene Bedeutsamkeit. Rudi Völler gewinnt kein Turnier, und nicht mal eine richtige Mauer hat man mehr zum Vorzeigen. Deutschlands Not ist auf dem Punkt, und jetzt wagt es endlich die Flucht nach vorne: Der Stuttgarter Bäckerjunge macht’s mit Freude an der eigenen Kompetenz, mit dem Willen zu Spiel und Sieg, der keine Überhebung braucht, aber ein schönes Bild von sich hat. Frühe Tore fallen, auch defensiv wird gespielt, sogar Stars gibt es: jedes Mal einen anderen. César Luis Menotti ruft die Revolution in den deutschen Farben von 1848 aus.

Italien? Die waren halt besser. Na, und? Deutschland, wer hätte das je gedacht, wird Weltmeister der Herzen. Der Einzelapplaus gilt dem Willen zum Beitrag. Möge er sich halten und auf andere Bereiche ausstrahlen! Weitermachen wie Schweinsteiger heißt jetzt mit viel Spaß ein zweiter Platz 2008 unter Klinsmann, dann machte Europa, ob insgesamt neu oder alt, mal wieder Spaß. RALF BÖNT