Falsche Freunde des WM-Spektakels

Schriften zu Zeitschriften: Die neue Ausgabe der „Blätter“ stemmt sich gegen nationale Erweckungserlebnisse

In der softpatriotischenVolksfeststimmung sind so dringliche Debatten wie die um Integration untergegangen

Wer in früheren Zeiten noch zu jenen Menschen gehörte, die sich in postnationalem Deutschland-Ekel geradezu reflexartig von allem Schwarzrotgoldenen abwenden mussten, durfte in den letzten Wochen erkennen, damit wohl einem performativen Selbstwiderspruch erlegen zu sein: Lag es nicht in dieser entschiedenen Abwehrhaltung selbst begründet, der bundesrepublikanischen Staatssymbolik eine ihr gar nicht zwingend zustehende Wichtigkeit und Bedeutungsschwere überhaupt erst zu verleihen?

In Gestalt jener postpathetischen Winkelemente, Narrenkappen und Fußabtreter, wie sie überall zu sehen waren, sind die Nationalfarben nun unversehens doch an jenem emotionalen Ort angekommen, an den eine bundesrepublikanische Linke sie sich insgeheim vielleicht immer gewünscht hatte: Als semantisch entladene, karnevaleske Fanartikel können sie nach dem Fest in der Mülltonne landen oder in irgendwelchen Abstellkammern verstauben.

Von daher zeigt sich der Berliner Publizist Albrecht von Lucke in der Juli-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik von aller weiteren geschichtspolitischen Vereinnahmung des WM-Spektakels nur wenig erbaut und ärgert sich vor allem über jene Schreiberlinge, die harmlose Fußballfolklore nun zum nationalen Erweckungserlebnis der Berliner Republik hochstilisieren wollen. Lucke zitiert lieber Schopenhauer: „Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.“

Völlig untergegangen sind für Lucke in der softpatriotischen Volksfeststimmung „mit unbedingtem Willen zum fröhlichen Wir“ nämlich gerade die vorher noch so leidigen wie dringlichen Diskussionen um Integration und rechtsradikale Gewalt. Dabei wäre es, so warnt Lucke und holt argumentativ weiter aus, grundfalsch, „die strukturellen und kulturellen Affinitäten zwischen Kapitalismus und Rassismus“ zu ignorieren, denn „die Ideologie des Kapitalismus, insbesondere in seiner gegenwärtigen, globalisiert neoliberalen Form, wird als totale Inwertsetzung von allem und jedem erlebt – bei gleichzeitiger permanenter Entwertung der eigenen Lebensleistung und -potenziale.“ Woraus sich für Lucke die Neigung zu Fremdenfeindlichkeit fast zwingend ergibt, denn „diese radikale Kränkungserfahrung geht allzu leicht eine fatale Verbindung mit den jeweils vorfindlichen Mentalitätsbeständen ein.“

Aber in dieser Kränkungserfahrung wären dann wohl auch die von Lucke leider nicht weiter verfolgten strukturellen Affinitäten von Sport und Patriotismus in der Mehrheitsgesellschaft zu suchen: Überzeugt die nationale Selbstwahrnehmung im politischen Diskurs doch ohnehin immer weniger durch einen gefühligen Rekurs auf innere Werte als vielmehr durch die messbare Rationalität internationaler Rankings und Vergleichsstudien, die ihrerseits längst als öffentlicher sportlicher Wettkampf sozioökonomischer Indikatoren inszeniert werden. Bekanntermaßen muss die Bundesrepublik sich hier regelmäßig mit einem mittleren Tabellenplatz zufrieden geben – wie mittlerweile auch die kollektive Stimmung als manipulierbare Ressource verstanden und als Mittel mobilisiert werden soll, um durch wundersames Wirken im Zeichen von Schwarzrotgold die enttäuschenden ökonomischen Kurven wieder nach oben zu ziehen.

Aus der Zweckrationalität eines solchen Denkens heraus ließe sich erklären, dass die Fußballöffentlichkeit nicht nur mit dem Gefühl der Drittplatzierung emotional bereits bestens vertraut, sondern auch nach der entscheidenden Niederlage zur demonstrativen Schau ihrer patriotisch guten Laune praktisch schon verurteilt war. Bedauert man diese ökonomistische Überlagerung sentimentaler Fußballtugenden, bleibt ja wenigstens zu hoffen, dass die kulturelle Übersetzung von Politik in Fußball vielleicht auch in umgekehrter Richtung wirken kann: Der Jubel über den dritten Platz wäre dann auch als indirekte Überdrussgeste der gegenüber gesellschaftlich formulierten Superlativen ins zweite Glied Verwiesenen zu verstehen.

Wer hätte das besser ausdrücken können, als Exersatzbundestorwart Oliver Kahn, der der Kanzlerin zur Medaillenverleihung noch einmal mit großer Hand die Schulter tätschelte?

JAN-HENDRIK WULF

Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2006, 8,50 €