Zum Methadon beim Ganslwirt

THERAPIE Murat A. war einst erfolgreicher Modemacher und schien angekommen in der Wiener Gesellschaft. Heute ist er drogenabhängig und HIV-positiv. Die Fremdenpolizei will den Kranken in die Türkei abschieben – Zuflucht findet er in einem ehemaligen Wirtshaus

Der Kongress: Von Sonntag an bis zum 23. Juli tagt in Wien die Welt-Aids-Konferenz. 25.000 Delegierte nehmen daran teil, das Motto: „Aids 2010 – Rechte hier und jetzt“ und betont damit das Menschenrecht auf Gesundheit und das Ziel, weltweit Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung zu gewähren.

Die Zahlen: Weltweit leben rund 33 Millionen Menschen mit HIV, schätzt das UN-Programm Unaids. Allein im Jahr 2008 infizierten sich rund 2,7 Millionen Menschen neu mit dem Humanen Immundefekt Virus (HIV) an, rund 2 Millionen starben an Aids, das durch das Virus ausgelöst wird.

Die Länder: Am stärksten von HIV und Aids betroffen sind die afrikanischen Länder südlich der Sahara. Laut Unaids lebten dort 2008 rund 22,4 Millionen Menschen mit HIV. Für Nordamerika, West- und Zentraleuropa ging Unaids von 2,3 Millionen HIV-Infizierten aus. Die Zahl der Infizierten in Deutschland wurde für 2008 auf 63.500 geschätzt. Im Gegensatz zu anderen Krankheiten wird HIV und Aids international vergleichsweise große Aufmerksamkeit zuteil – mit dem Global Fund oder dem PEPFAR-Programm der US-Regierung etwa gibt es Gelder, mit denen sich die medizinische Versorgung ausbauen ließ. (kaj)

AUS WIEN RALF LEONHARD

Lisa S. hat gerade einmal ihren 20. Geburtstag erlebt, Heinrich H. nicht einmal den. Heinrich H. starb im Mai, Lisa S. im Juni. Die Traueranzeigen, in Österreich Partezettel genannt, versehen mit den Lebensdaten und trostreichen Sprüchen von Albert Schweitzer oder chinesischen Philosophen, hängen am schwarzen Brett im Aufenthaltsraum beim „Ganslwirt“. Woran Heinrich H. und Lisa S. gestorben sind, ist nicht vermerkt. „Eine Überdosis, eine drogenbedingte Folgekrankheit oder Aids“, mutmaßt Hans Haltmayer, ärztlicher Leiter des „Ganslwirts“, der schon viele Klienten verloren hat.

Der „Ganslwirt“, heute eine stadtbekannte Anlaufstelle für Drogenkranke, war einst ein gutbürgerliches Gasthaus in Wiens Bezirk Mariahilf. Als der auf Geflügel spezialisierte Wirt 1989 in Pension ging, übernahm die Stadt Wien das Lokal. Der Verein Wiener Sozialprojekte konnte einziehen, „nicht ohne dass eine Bürgerinitiative lautstark demonstriert hätte“, erinnert sich Dr. Haltmayer. Doch die Stadt setzte sich durch. Heute nimmt kaum noch jemand Anstoß an dem Haus, das für viele zum Lebensmittelpunkt geworden ist.

Die Gans ist noch da

Von außen könnte man immer noch denken, der „Ganslwirt“ sei ein Wirtshaus. Die Gans über der Eingangstür wurde nicht entfernt, aber schon der Eingang verrät, worum es hier geht. Hinter zwei Fensterchen sitzen Sozialarbeiter, die den Spritzentausch abwickeln. Für eine benutzte Spritze bekommt man gratis eine neue. Auch alte Filter oder „Stericups“ – die kleinen Schüsselchen, in denen das Heroin über einer Flamme verflüssigt wird – kann man umtauschen. All diese Dinge werden für wenig Geld verkauft. Und Kondome und Gleitmittel werden kostenlos abgegeben.

Hier beim „Ganslwirt“ ist jeder willkommen, der Hilfe braucht: Substitution, medizinische Betreuung oder eine Sozialarbeiterin, die zuhört. Im ehemaligen Gastraum stehen noch die runden Tische, wie damals, als man Gänsebraten serviert bekam. Es gibt Kaffee für 55 Cent, Müsli für 1 Euro oder den Tagesteller für 1,35. Im Laufe des Vormittags füllt sich das Lokal. Ein kahl rasierter Mann surft im Internet, ein abgemagerter Typ im roten T-Shirt ist über der Kronen Zeitung eingeschlafen und döst, den Kopf auf der Tischplatte. Die meisten sitzen in Gruppen an den Tischen, rauchen, trinken Kaffee oder löffeln Müsli. Gesprochen wird wenig.

HIV und Hepatitis

Murat A. passt nicht richtig in diese Gesellschaft. Er ist auch bei Sommerhitze korrekt gekleidet und spricht fast akzentfrei gepflegtes Wienerisch. Er sieht nicht aus wie ein Junkie, nur der Hautausschlag fällt auf. Murat A. ist heroinabhängig und seit dreieinhalb Jahren HIV-positiv. Eine Hepatitis C komplettiert das Unglück. Die Krankheit ist noch nicht ausgebrochen. Der dicke rote Ausschlag, der Murats Hände wie Schorf überzieht, ist Folge einer Neurodermitis. Nervös zupft er sich immer wieder Haut herunter. „Ich bin mit den Nerven völlig fertig“, gesteht er. Denn zu den Problemen mit der Krankheit kommt die Angst vor Abschiebung.

„Meine Familie lebt seit 30 Jahren in Österreich, alle anderen haben längst die Staatsbürgerschaft.“ Er habe Pech gehabt. Wenige Monate nach Erwerb des Führerscheins hatte er einen Unfall mit Personenschaden verursacht. „Körperverletzung“ stand danach in seiner Strafakte, und er musste fünf Jahre warten, bis er die Einbürgerung erneut beantragen durfte. Da hatte er dann bereits Probleme mit den Drogen. Drogenabhängige Kriminelle haben keine Aussicht auf die Staatsbürgerschaft. Jetzt ist Murat die Fremdenpolizei auf den Fersen.

„Ich war der glücklichste Mensch“, erinnert sich Murat an die Zeit vor zwanzig Jahren. Und er meint, dass er das heute noch wäre, hätte er damals nicht auf seine Schwestern gehört. Die redeten ihm ein, er müsse sich von seiner österreichischen Freundin trennen, um den Vater nicht zu verärgern. „Wir sind keine traditionelle türkische Familie. Wir kommen aus der Stadt. Schleier und so Zeug gibt es bei uns nicht.“ Dennoch habe er sich dem Diktat der fünf Schwestern gebeugt: in der, wie er heute weiß, falschen Vorstellung, dass die Eltern gegen eine Heirat mit einer Österreicherin gewesen seien. „Damals begann ich Drogen zu nehmen, um meine Depression zu überwinden.“ Die Hochzeit mit einer fünf Jahre jüngeren türkischen Frau verschärfte die Krise: „Als ich ihr beichtete, dass ich Heroin spritzte und ihre Hilfe bräuchte, ging sie zu ihrer Mutter petzen“. Die machte einen Skandal anstatt zu helfen.

Der junge Mann, der so vielversprechend als Herrenschneider und Modedesigner begonnen hatte, bei internationalen Modeschauen Auszeichnungen gewann und in einem Modegeschäft der Wiener Innenstadt blendend verdiente, stand plötzlich ohne Frau und ohne Job da. Wer einmal in den Strudel der Drogenszene geraten ist, gerät früher oder später in die Fänge der Justiz. So auch Murat A. Eine erste Strafe wurde auf Bewährung ausgesetzt, wenn er sich einer Entzugstherapie unterziehe. Das tat er. „Elf von zwölf Monaten hatte ich hinter mir. Ich war so clean, ich habe nicht einmal mehr Zigaretten geraucht.“

Dann kam die Nachricht: HIV-positiv. Auf den Schock griff Murat wieder zu Heroin und wurde prompt erwischt. Die Folge: Statt die Therapie zu beenden, musste er in den Knast, weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Das hieß kalter Entzug. „Ich dachte, ich werde wahnsinnig, bin mit dem Kopf gegen die Zellenwand gerannt.“ Die ersten drei Wochen konnte er kaum schlafen. Erst dann gab ihm der Anstaltsarzt Methadon.

In Österreich, berichtet der „Ganslwirt“-Arzt Hans Haltmayer, sei die Anwendung des Suchtgiftgesetzes im Rahmen der Substitutionsbehandlung weniger streng als in Deutschland. „In Österreich finden wir, dass manches im Gesetz fachlich nicht sinnvoll oder gar schädlich ist, und schreiben das auch ausdrücklich in die Behandlungsempfehlungen.“ Von beiden Seiten schaue man überwiegend, wie dem Patienten geholfen ist, und nicht, wie das Gesetz am härtesten auszulegen wäre. So werde oft unbürokratisch geholfen. Wenn der Gesetzgeber das Recht nicht der Praxis anpasse, so liege das daran, dass die Parteien das Thema Suchtgift nicht gerne anfassten.

Österreich gehört nicht zu den Ländern mit einem rasanten Anstieg von Drogenkonsumenten. In Wien wird die Zahl der Heroinsüchtigen auf nicht mehr als 10.000 Menschen geschätzt. In Österreich sind 2009 zehn Drogenabhängige an Aids erkrankt. Dramatische Zahlen sind das nicht. Sie erleichtern die Arbeit der Versorgungseinrichtungen.

„Unser Ziel ist nicht, die Leute abstinent zu kriegen“, sagt „Ganslwirt“-Arzt Hans Haltmayer. Als Erfolg gilt, wenn die Substitutionstherapie greift und die Patienten ein unauffälliges Leben führen

Gegen Stigmatisierung

Die täglichen Erfahrungen des „Ganslwirt“ wurden auch von den Organisatoren der internationalen Aids-Konferenz in ihrer „Wiener Erklärung“ aufgegriffen. Sie wendet sich gegen die „Stigmatisierung von Menschen, die illegale Drogen konsumieren, was wiederum die Kriminalisierung von Drogenkonsumenten politisch populärer macht und die HIV-Prävention sowie andere Gesundheitsförderungsprogramme untergräbt“.

Seit acht Monaten ist Murat A. wieder auf freiem Fuß. „Unser Ziel ist nicht, die Leute abstinent zu kriegen“, sagt „Ganslwirt“-Arzt Hans Haltmayer. Weniger als 10 Prozent schaffen es nach seiner Erfahrung, ganz von der Droge loszukommen. Als Erfolg gilt, wenn die Substitutionstherapie greift und die Patienten ein unauffälliges Leben führen: „Da gibt es zum Beispiel einen Krankenpfleger, der seit Jahren seinen Job macht.“ Allerdings lebe er in ständiger Angst, dass der Arbeitgeber seine Sucht entdecke.

Von einem angepassten Leben kann Murat nur träumen. Die Substitution ist zwar erfolgreich, doch Murats Arbeitsgenehmigung ist ebenso abgelaufen wie sein Visum. Wenn er nicht bei einem Freund wohnen könnte, wäre er obdachlos. Die Fremdenpolizei will Murat „in seine Heimat“ abschieben. „Welche Heimat?“, fragt er. In den vergangenen dreißig Jahren habe er nicht mehr als insgesamt sechs Wochen in der Türkei verbracht. „Dort behandelt man mich nicht wie einen Türken, sondern wie einen Ausländer. Meine Heimat ist hier.“ Als „Fremder“ ohne Visum ist Murat nicht krankenversichert. Seine antiretroviralen Medikamente bekommt er beim „Ganslwirt“, teilweise vom Roten Kreuz und vom Aids-Hilfe-Haus.

Eine Abschiebung in die Türkei könnte für Murat tödlich sein. Dort ist die Einfuhr von Methadon nicht erlaubt. Eine angemessene Behandlung seiner Krankheit ist dort nicht zu erwarten. Jeden Tag hofft er auf einen Bescheid, der ihm humanitären Aufenthalt zugesteht. Beim Formulieren des Antrags hat man ihm beim „Ganslwirt“ geholfen. Er bekommt die Substitution auf Kosten des „Ganslwirts“ und psychologische Betreuung.

„Unsere Erfolge“, sagt Hans Haltmayer, „orientieren sich nicht an der Abstinenz. Wir freuen uns, wenn wir Folgeerkrankungen verhindern können, wenn Patienten einen Job finden oder einen Platz zum Wohnen. Manchmal ist es schon ein Erfolgserlebnis, wenn jemand wieder versichert ist.“ Für Murat A. wäre das ein Motiv für neuen Lebenswillen.