Die lebendige Kraft des Vergessens

NEUERSCHEINUNG Marc Augé meditiert in seinem aktuellen Buch über „Die Formen des Vergessens“

Seine Hochschätzung des Vergessens illustriert er ausgerechnet mit ihm einfallenden Erinnerungen

Seit einiger Zeit haben Diskurse Konjunktur, die die Bevorzugung des Erinnerns vor dem Vergessen in Frage stellen. Kritische Überlegungen zur gewohnten Hierarchisierung von Erinnern und Vergessen tauchen hauptsächlich in zwei Problemfeldern auf. Zum einen wird angesichts der immensen Speicherkapazitäten der digitalen Medien und der Gefahr, dass ins Netz gestellte kompromittierende Inhalte noch Jahre später den Betroffenen zur Strecke bringen können, die Forderung nach einem Verfallsdatum für Informationen erhoben.

Zum anderen wird das Erinnerungsgebot, das die Geschichtspolitik postnationalistischer Gesellschaften dominiert, nicht mehr unbedingt als selbstverständlich angesehen. Man diskutiert, ob nicht neben Erinnern auch Vergessen eine Option ist, um der Geschichte zu entrinnen. Und verweist etwa darauf, dass im Zeitalter des Rationalismus die Verfasser des Westfälischen Friedensvertrags stipuliert hatten, die erlittenen Gräuel „ewigem Vergessen und der Amnestie“ zu überantworten.

Auch Marc Augé drückt am Ende seines aktuellen Buchs „Die Formen des Vergessens“ Skepsis gegenüber der erinnerungspolitisch abgeforderten „Verpflichtung zum Gedenken“ aus. Aber das Hauptthema des angenehm zu lesenden Textes ist eine anthropologische Fragestellung. Der französische Ethnologe und Kulturwissenschaftler philosophiert über die Rolle des Vergessens bei der Konstruktion von Gedächtnis und darüber hinaus allgemein bei der Lebensbewältigung.

Wie schon Nietzsche wertet er das Vergessen zu einer „lebendigen Kraft“ im Dienste des Lebens auf. Es erscheint ihm als Fähigkeit, dank der die unerbittliche Zeitlichkeit zwar nicht abgeschafft wird, aber unter ihrem Regime gleichwohl ein autonomer „Gebrauch der Zeit“ möglich ist. Durch Vergessen kann man eigene Akzente im Narrativ seines Lebens setzen. Das Vergessen durchbricht das stupide Traben im Ticktack der Lebensuhren.

Mit Bezug auf ethnologische Beobachtungen arbeitet Augé drei Formen konstruktiven Vergessens heraus: die „Rückkehr“ (die Wiederanknüpfung an eine frühere Lebensphase, die die nahe Vergangenheit vergisst), den „Schwebezustand“ (das zukunftsvergessene Sichhingeben an die Gegenwart) und den „Beginn“ (den Aufbruch ins Neue, der die lastende Vergangenheit vergisst.)

Das Vergessen, das Augé als „Komplizen“ des Gedächtnisses rehabilitiert sehen möchte, ist offensichtlich nicht jenes leerräumende Vergessen, das er in seinem bekanntestes Buch „Orte und Nicht-Orte“ als Charakteristikum der in unserer Epoche so zahlreichen „Nicht-Orte“ (Einkaufszentren und Flughäfen zum Beispiel) angeprangert hatte. Wenn er nun einen „Lobgesang auf das Vergessen“ anstimmt, wählt er allerdings, man wird es gemerkt haben, eine sehr andere Tonart als Wagner in dem sirenengesangsartigen „Gib-Vergessen“-Duett von Tristan und Isolde.

Vergessen fasziniert ihn nicht als kleiner Bruder des Todes, sondern als Lebenselixier, um „anwesend zu bleiben“. Statt Wagner bietet sich eher Paul Celans „Mohn und Gedächtnis“ als kulturelle Assoziation an. Für den nun über 70-jährigen Augé ist bei seiner Apologie des Vergessens vielleicht auch wichtig, dass er, wie er beschreibt, dank des Vergessens bei einer Rückkehr zu einem Schauplatz einer früheren Lebensphase sich von der Kraft der Sinneseindrücke so überwältigen lassen kann, dass sich das Gefühl einstellt, diesen nie verlassen zu haben: „zwei getrennte Zeitabschnitte sind miteinander in Kontakt gebracht“.

Wie in seinen früheren Büchern schreibt der langjährige Direktor der angesehenen Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales in einem frei improvisierenden Stil. Eine gewisse Verschmitztheit scheint am Werk, wenn er seine Hochschätzung des Vergessens mehrfach ausgerechnet mit ihm einfallenden Erinnerungen illustriert. Und gemäß seinem Motto, dass ein „schlechtes Gedächtnis kultiviert werden muss“, unterlässt er es nicht, einige angesprochene Motive im Verlauf des Textes einfach zu … vergessen.

CHRISTOF FORDERER

■ Marc Augé: „Die Formen des Vergessens“. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 105 Seiten, 12,80 Euro