BÖHMISCHE DÖRFER
: Zeit für zwei Bier

Und nun spielen wir Impro-Theater

Berlin ist ein Dorf, nichts geht verloren. Irgendwo, in irgendeiner versteckten Ecke, findet sich anscheinend alles irgendwann wieder. Es kann natürlich sein, dass man lange danach suchen muss. Oder längst vergessen hat, dass da mal irgendwann irgendwas abhanden gekommen war. Und plötzlich steht es vor einem.

Wie gestern meine Exfreundin. Im Graefe-Kiez. Ich schlenderte gerade zu Fuß von Nirgendwo nach Irgendwo. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs, auch allein. Beide hatten wir genug Zeit für zwei Bier und drei Zigaretten. Lange her. Getrennt haben wir uns damals nicht unbedingt im Guten. Aber die Zeit rinnt, man geht weiter – verlässt, vermisst, vergisst. Und nun spielen wir Impro-Theater: zufällige Begegnung zweier alter Freunde. Wie geht es dir? Was machst du so? Promotion. Mit Stipendium? Glückwunsch! Von der evangelischen Kirche. Tatsächlich. Dann aber vorsicht mit dem Alkohol. Ja, ja, die taz, das ist schon ein bekloppter Verein, so alles in allem. Was ich werden will, wenn ich mal groß bin? Entweder glücklich oder Diktator. Und die Familie? Na ja, die alten Geschichten, Du weißt schon, manche Sachen ändern sich eben nie.

Wie es ihr, wie es mir wirklich geht, bleibt ungesagt. Wir mäandern an allem vorbei, was irgendwie ins Private führt. Ein zweieinhalbstündiger Smalltalk auf hohem Niveau. Bleiben noch Fragen übrig? Ach ja: Wo wohnst du eigentlich? Mich hat es nach Neukölln verschlagen. In der Nähe der Richardstraße. Das ist ein altes böhmisches Dorf. Ja, das bist du mittlerweile wirklich.

TOBIAS NOLTE